Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 13, S. 519

Hugo Wolf-Verein, »Gesammelte Aufsätze über Hugo Wolf« Scheerbart, »Der Tod der Barmekiden«

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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 13, S. 519

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NOTIZEN. 519

Opfer gefallen zu sein. Seine
Liedercompositionen bedeuten eine
interessante, bisweilen sehr fesselnde
Abart, eine Specialität. Gegen die
Allgemeingiltigkeit, gegen die Su-
periorität Wolfs über Schubert,
Schumann, wie sie in diesen Aus-
führungen in Anspruch genommen
wird, möchten wir denn doch ent-
schieden protestiren. Bezeichnend
ist es übrigens, dass der Name
Johannes Brahms’, als einer qualité
negligable, in dem ganzen Buche
nur einmal flüchtig genannt wird.
Wahrscheinlich weil er einmal
declamirte »Wie bist Du meine
Königin«. Also alle diese Herren,
die Wolf gegenüber so hellsichtig
sind, sehen angesichts des Brahms-
schen Liederschatzes nur in einen
schwarzen Abgrund? Eingeleitet
ist die Schrift durch einen die
Persönlichkeit Wolfs sehr glück-
lich, seine Kunst aber sehr schief
charakterisirenden Aufsatz Hermann
Bahrs. Ist es wirklich die Schuld
Schuberts, wenn Bahr durch seine
Composition »eines geliebten Ge-
dichtes« (also etwa »An die
Thüren will ich schleichen«)
»genirt« wird, während nach
seiner Meinung nur Wolf es ver-
stehe, »die natürliche Musik dieser
Verse« zu machen und diesen
Worten »Hände und Augen« an-
zucomponiren? Wenn Hermann
Bahr durchaus in musikalischen
Dingen nach dem kritischen Richt-
schwert greifen muss, so thäte er
wohl, sich früher zu vergewissern,
dass er den Griff nicht mit der
Schneide verwechsle. Diesmal hat
er sich geschnitten. Am Schlusse
wünscht der Verfasser, »die Na-
tion möge sich Hugo Wolfs
würdig erweisen«. Ein
Satz, der Todte zum Lachen reizen

könnte. »Einverstanden« höre ich
Hermann Bahr sagen. G. S.

Paul Scheerbart: Der Tod
der Barmekiden
. Arabischer
Haremsroman. Verlag Kreisende
Ringe, Leipzig 1898.

Dieser Roman des sehr ver-
schrieenen Phantasten hat mich
— ich muss es gestehen — ent-
zückt. Allen Schwerverdauenden,
die mit den dicken Phrasen
ethischer und ästhetischer Dog-
men vollgepfropft sind, kann man
Paul Scheerbart als Digestions-
mittel verschreiben. Seine Welt-
anschauung ist die, keine Welt-
anschauung zu haben. Man versuche
um Himmelswillen nicht, auch in
den Sprüngen und tollen Gesängen
dieses Excentriques verborgene
Dogmen zu wittern. Man freue
sich über den Rastlosen, Unruhigen,
Bewegten, der wirklich die Höhe
erreicht zu haben scheint, nichts
ernst zu nehmen. Seine gute Wir-
kung ist die, dass er den Leser
von sich selbst weg stösst, ohne
ihn in eine neue Richtung zu
zwingen. Er will blos befreien,
den Müden und Schwerfälligen
flinke Beine machen. Ob sie dann
zum Fliegen kommen oder blos
taumeln oder gar zusammensinken,
ist ihm sehr gleichgiltig. Das
unterscheidet ihn vorteilhaft oder
unvortheilhaft — wie man es
nehmen will — von Anderen, die
frei machen, um wieder zu fesseln.

Mitterwurzer soll einmal gesagt
haben, dass er seine Natur identisch
fühle mit der der Schwerttänzer,
Clowns und Schlangenmenschen.
Daran möge man denken, bevor
man Scheerbart und seine Buch-
capriole aus der Kunst verbannt.

m. m.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 13, S. 519, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-13_n0519.html)