Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 14, S. 543
Text
Von Leo Berg (Berlin).
Jedes, auch das scheinbar objectivste Werk der Kunst erzählt
uns nichts anderes, als die inneren Erlebnisse des Autors. Die Lite-
ratur- und Kunstgeschichte ist sozusagen die Generalbeichte der Völker
und Individuen. Aber die Freude am Darstellen und Dargestellten,
das Kunstprincip und ein gewisses Schamgefühl zwingt die Künstler,
ihrer Psyche ein fremdes Gewand zu geben, das bald die Geschichte,
bald die Natur, bald die Gesellschaft oder irgend eine Wissenschaft
liefern muss. Stil- und Sittengesetze haben weitere Beschränkungen der
Subjectivität des Künstlers aufgelegt.
Zuweilen aber hat doch der eine oder andere kühne Mensch,
auf die Gefahr hin, für schamlos und verworfen gehalten zu werden,
in irgend einer literarischen Nebenform sein Ich persönlich in die
Literatur eingeführt. Und das sind die eigentlichen Beichten oder
Bekenntnisse, deren Geschichte mit dem grössten und wunderbarsten
Werk dieser Gattung anfängt, den Bekenntnissen des heiligen Augustinus.
In den anderthalb Jahrtausenden aber ist diese Literatur, die im Zu-
sammenhange einmal dargestellt werden sollte, nicht sehr gross ge-
worden. Denn gibt es der Memoiren auch zahllose, eigentliche und
directe Selbstbekenntnisse sind immer seltene Ausnahmen, weil sie
einen besonderen Grad von Muth und Ehrlichkeit zur Voraussetzung
haben.
Zu diesen aber gehören die Werke von August Strindberg,
des subjectivsten und leidenschaftlichsten unter den Modernen. Seine
Dramen und Novellen, trotz ihrer künstlerischen Form und schein-
baren Objectivität, sind Proteste, leidenschaftliche Aufschreie einer
gequälten Mannesseele. Ihre subjective Wahrheit ist so überwältigend,
dass sie durch den Vorwurf der Übertreibung gar nicht entkräftet
werden kann. Ob das Weib z. B. in Wirklichkeit so ist und immer
so ist, wie es Strindberg darstellt, kommt nicht in Frage. Genug, dass
es dasjenige Weib ist, das er kennt und wie er es kennt. Das aber
ist unzweifelhaft echt.
Strindberg hat dann weiter den Muth gehabt, auch die letzte
künstlerische Hülle fallen zu lassen und in »Vergangenheit« und der
»Beichte eines Thoren« eine Darstellung seiner Natur, seiner Geschichte
und Erfahrungen gegeben, so rückhaltlos, so ohne alle Pose, Selbst-
rechtfertigung und Eitelkeit, dass man diese Beichte zu den aufrich-
tigsten Büchern der Weltliteratur rechnen muss. Ihr psychologischer
Wert besteht in der Schärfe der Selbstbeobachtungen, ihr literarischer
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 14, S. 543, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-14_n0543.html)