Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 14, S. 544
Text
in der Klugheit und Feinheit des Beobachters. Es sind in unserer
Zeit nicht viele Bücher geschrieben worden, welche lehrreicher und
nützlicher zu lesen wären.
Diese Beichte hat er neuerdings vermehrt durch einen Band, dem
die literarische Kritik rathlos gegenüberstand: Inferno.*) Wir haben
ihn bisher kennen gelernt als einen kühnen Geist, der sich schnell
auf die Höhen der wissenschaftlichen Speculation geschwungen, einen
viel bewegten Mann, der allen Fragen des modernen Lebens leiden-
schaftlich und gewappnet gegenüberstand. Den Strindberg von früher
bezeichnet man am besten als einen wissenschaftlichen, einen specifisch
wissenschaftlichen Charakter. Jedes wissenschaftliche Problem, mit dem
er sich befasst, nimmt er als eine persönliche Sache auf. Es ist ihm
nicht gleichgiltig, ob die Wissenschaft dieses oder jenes Resultat zu
Tage fördern wird. Denn er ist kein Fachgelehrter, d. i. kein geistiger
Castrat. Mit solcher Leidenschaftlichkeit hat sich der menschliche Geist
vielleicht seit den Tagen der Renaissance den wissenschaftlichen Pro-
blemen nicht wieder zugewandt, die ihm Lebens- und Machtfragen sind.
Und aus dieser Leidenschaftlichkeit heraus erklärt sich seine
grosse Umkehr. Den Kämpfer von gestern finden wir als einen ge-
brochenen Mann wieder, der helle Kopf hat sich dunklen Geheim-
wissenschaften zugewandt und er verabschiedet sich von uns mit dem
Wunsch, in den Schoss der katholischen Kirche zurückzukehren. Viel-
leicht ist auch dies nur eine Episode in seinem Leben. Denn dieser
bewegliche Geist hat schon viele Wandlungen durchgemacht. Jung
war ich aufrichtig fromm, und Ihr habt mich zum Freidenker gemacht.
Aus dem Freidenker habt Ihr mich zum Atheisten gemacht, aus dem
Atheisten zum Gottesfürchtigen. Von humanitären Ideen geleitet, bin ich
ein Herold des Socialismus gewesen. Fünf Jahre später habt Ihr den
Socialismus ad absurdum geführt. Alles, was ich prophezeit habe, habt
Ihr für nichtig erklärt! Und angenommen, ich werde wieder religiös,
so bin ich sicher, dass Ihr in zehn Jahren auch die Religion wider-
legt habt.
Ist dies Schwäche? Ich glaube eher Reichthum, Leben, Mit-
leben. Geister von dieser Receptivität, von dieser Leichtigkeit und
Verletzlichkeit gerathen leichter ins Schwanken. In religiös, politisch
oder wissenschaftlich aufgewühlten Zeiten, wie den unsrigen, in denen
alles wieder in Frage gestellt zu sein scheint, gibt es solche Er-
scheinungen. Die Geschichte der Religionen und Wissenschaften ist
voll von Gestalten wie Strindberg, der wahrlich nicht der uninter-
essanteste in dieser Galerie ist.
Diese letzte Beichte ist eine erschütternde Tragödie. Alles was
er bekämpft hat, hat sich wider ihn gewandt. Die Leidenschaftlichkeit
erklärt sich dadurch, dass er so vieles in sich selbst hat niederkämpfen
müssen. Aber er hat sich nicht todgemacht. Das Umgeworfene hat sich
*) August Strindberg: Inferno. Autorisierte deutsche Ausgabe. Berlin-
Georg Bondi. 1898.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 14, S. 544, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-14_n0544.html)