Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 14, S. 545

Strindberg, der Bekenner (Berg, Leo)

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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 14, S. 545

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STRINDBERG, DER BEKENNER. 545

heimlich aufgerafft und ihn mit feinen Instrumenten, Selbststacheln
und Widerhaken verfolgt. Und in diesem Kampfe ist er erlegen. Er
leidet unsäglich. Aber seine Wahrheitsliebe zwingt ihn, alles zu sagen.
Er gibt einen Bericht über sich, auf den hin man ihn in ein Irren-
haus bringen könnte. Er verschweigt keine Krankheit und Qual. Ver-
zweifelt ringt er an gegen diese Verfolgungen (ich glaube, die Mediciner
werden diesen Bericht als einen getreuen Bericht von Verfolgungs-
wahnsinn erkennen), er notiert jede Niederlage, er verheimlicht kein
Mittel und keinen Versuch. Er schildert seine Reue und Zerknirschung
und gibt sich vollkommen preis.

Die Geschichte fängt an mit einer Trennung in Paris. Strindberg
glaubt, dass ihn seine Frau, seine »schöne Kerkermeisterin, die Tag
und Nacht seine Seele belauert« in der Entwicklung seines wissen-
schaftlichen Charakters hindert und gibt ihr in ziemlich brutaler Weise
den Scheidebrief. Die Reue folgt der That auf dem Fusse. Bei seinen
chemischen Experimenten verbrennt er sich die Hand, er kommt in
ein frommes Krankenhaus, dessen Leiterin ihn wie ein leiser Schein
der Heiligkeit berührt. Selbstmordgedanken quälen ihn, die wieder-
holentliche Versuche zur Folge haben. Eine grosse Verzweiflung und
Niedergeschlagenheit kommt über ihn. Denn er ist wieder einmal
fertig. Das Erreichte, Theater und Literatur, interessiert ihn nicht
mehr. Und die Gefahr der Vereinsamung steht an der Schwelle seiner
Seele. Er ist ein »Bankerotterer der Gesellschaft«. »Vae soli!« Angst
vor dem Unbekannten peinigt ihn, er erkennt jene unsichtbare Hand
wieder, die ihn züchtigt und geisselt. Der Gedanke lässt ihn nicht
mehr los, die Vorsehung plane etwas mit ihm. In allem, was er
erlebt, was ihn beunruhigt, anekelt, sieht er die Macht und Absicht
einer anderen Welt. Er stürzt sich abermals in die Arbeit, experimentiert,
versucht sich, ein neuer Alchimist, Gold zu machen und beginnt, die
Unsterblichkeit naturwissenschaftlich zu beweisen und ergibt sich einem
wissenschaftlichen Mysticismus. Auf dem Friedhofe von Montparnasse,
wo er in feierlicher Stimmung seine Morgenspaziergänge macht, treibt
er »Jagd auf Seelen«, d. h. die vergeistigten Körper der Abgeschiedenen,
die als Miasmen die Luft schwängern. Er möchte wieder fromm werden.
Alles erhält jetzt erneute Bedeutung, jede Inschrift, auf die sein Blick
fällt, jede Blattform, jedes Faserngezweig gibt ihm eine Hinweisung
auf eine andere Welt, eine höhere Ordnung, übernatürliche Mächte.
Das Leben ist eine Busscolonie für Sünden, begangen in einer früheren
Existenz. Er ist dem Satan überliefert. Die unsichtbaren Mächte ver-
folgen ihn mit elektrischen Drähten, die gerade auf seine Brust geleitet
sind. In jedem Zufall sieht er eine feindliche Absicht. So erklärt sich
alles, auch sein wissenschaftlicher Mysticismus, denn die Geister sind
naturalistisch geworden. Für seine damalige Stimmung citiert er das
Wort des Jeremias: »Ich habe fast vergessen, was Glück ist«.

Völlig umdüstert begibt er sich nach Schweden zu einem be-
freundeten Arzt. Aber hier ist die Hölle erst recht los. Er hat gesündigt
durch Hybris, durch den Übermuth des modernen, wissenschaftlichen

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 14, S. 545, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-14_n0545.html)