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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 14, S. 557

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FIDUS. 557

die aus dem Körper einen Kosmos macht, für den in einer Weise,
die uns so gern an dieses Wunder glauben lässt, die Schwerkraft
unserer Erde aufgehoben ist, indem er das Centrum in sich gefunden
zu haben scheint und so schwebend das Blatt der Blume unter seinen
Füssen nicht niederbeugt, diese glückliche Lösung der Aufgabe der
Silhouette, jede Massigkeit in ungezwungene Gliederung aufzulösen,
was hier sogar bei zwei zum Tanze innig verbundenen Gestalten
gelungen ist, diese Harmonie in dem Verhalten der beiden und dabei
doch die strenge Scheidung männlicher und weiblicher Wesenheit in
den Kindern — und das alles mit einer Einfalt der Mittel, die so
rührend schwesterlich dem Vorwurf zu seinem zarten Leben verhilft:
— — ja, das alles in seiner Vereinigung scheint wirklich nur wie
auf einem Gnadenwege möglich geworden zu sein. Und man kann
mit Recht von einem Gnadenwege reden. Denn den verlangenden
Künstler, den Ernst und Fähigkeit zu einem feinen Erzieherberuf
lockten, begünstigte auch äusserlich das Schicksal, indem es ihn dem
Maler Diefenbach in Höllriegelsgereuthe bei München zuführte,
der ihn zwar nicht viel Zeichnen und Malen lehren konnte, der aber
durch seine reformatorische Idee, olympische Freiheit in alle äusseren
Lebensformen dringen zu lassen, Fidus zu einer lebendigen Anschauung
des Menschen verhalf, die kein Modellstudium bieten kann. Im Diefenbach-
Kreise, der der Moral der Civilisation den Krieg erklärte, wurde die
Scheu vor der Nacktheit überwunden; da beobachtete er die Kinder
seines Meisters in einem herrlichen Leben der Freiheit, die Natur des
Kindes offenbarte sich ihm in ihrem Sichfreifühlen von allem Zwange,
und er lernte die wunderbare Sprache des Leibes und der Glieder,
die auch die Sprache der Seele ist. So hat er uns in erhabener Weise
die Kindesseele schildern können. Wenn irgend eine Kunst, so möchte
ich diese als das vornehmste Erziehungsmittel hinstellen.

(Schluss folgt.)


Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 14, S. 557, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-14_n0557.html)