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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 14, S. 556

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556 SPOHR.

uns den Wetterpropheten nun auch in seiner Kunst wieder. Selbst
Allgemein-Menschliches, wie Güte, Milde, Liebe, Dämon, Verderbt-
heit, Keuschheit strahlt uns neben den zahlreichen weichen, der receptiven
Hälfte des Menschen eigenen Attributen vom Frauenantlitz und Frauen-
leibe am deutlichsten entgegen, während der Mann mit seiner Em-
pfindungscentrale und seiner harten, charaktervollen Peripherie nur die
mit Kraft gepaarten Affecte für die leichte Wahrnehmung an die Ober-
fläche treten lässt. Wer nun in dem von Fidus Dargestellten nicht
den Spiegel einer Seele erkennt, dem wird seine Bedeutung und sein
Eigenstes nie zu den Sinnen sprechen.

Wohl verdanke ich die Hoffnung, die sich mir an das Wirken
dieses Künstlers knüpft, einem intimeren Eindringen in seine Kunst
und in seine Künstlerträume, so dass ich meine Glaubensfestigkeit
betonen kann, die hohe Achtung der Wenigen, die in das Sanctum
seines Wesens eindringen konnten, werde sich zur Verehrung eines
grossen erlösungsbedürftigen Kreises erweitern und die Zukunft werde
die Beweise schaffen, dass wir Vertrauenden mit gutem Recht die
Entfaltung einer allerhöchsten Kraft voraussagten. Allein da ich die
Keime der Grösse auch in dem Bescheideneren zu erkennen wähne,
so halte ich Hinweise auf das Concretgewordene, d. h. hier auf das
Bekanntgewordene für nützlich. Fidus sucht nicht die Kunstausstellungen
auf, wo er sich mit seiner intimen religiösen Kunst durchaus deplaciert
fühlen muss. So bleibt mir nur das Eingehen auf die Reproductionen
übrig, die grossen Kreisen zugänglich geworden sind. Gewiss begegnen
uns schon auf diesem begrenzten Gebiet Kunstwerke, die uns den
Wesensumfang des Malers ahnen lassen. Von den vielleicht nur dem
engeren Kreise der Theosophen bekannt gewordenen Beilagen der
»Sphinx« will ich doch eines Bildes Erwähnung thun, das 1889 vom
einundzwanzigjährigen Fidus geschaffen wurde und in dem er doch
schon seinem specifischen Wollen einen packenden Ausdruck verleihen
konnte. Es sind die »Tänzer«, die Darstellung zweier nackter, tan-
zender Kinder in weisser Silhouette auf schwarzem Grunde. Er trat
hier zuerst mit besonderem Glück als Darsteller und Anwalt der
menschlichen Seele auf. Dass er das Nackte darstellte, darin lag nichts
absonderliches. Aber das Wie der Darstellung bewies, dass hier ein
beredter Mensch erstanden war, dem wie Goethe »die Menschengestalt
das non plus ultra alles menschlichen Wissens und Thuns« ist, dem
der menschliche Leib als etwas dem Heiligsten Gleichstehendes gilt.
Es war ein Werk gelungen, das den prüden Hasser der Nacktheit
wie den Cyniker entwaffnen musste — eine wirkliche, eine träumerische
Musik der Formen war das, die die Seele auf Gefilde lockt, die uns
leise wehe an das verlorene Paradies mahnen und mächtig die Sehn-
sucht nach einem Wiedererobern anregen. Da ist kein Rest von Fri-
volität, vielmehr weht uns eine Kraft entgegen, die entschuldet und
läutert. Diese Sicherheit im Ausdruck des Kindlich-Reinen, diese Über-
windung der Starrheit bei der von der Kunst gestellten Aufgabe, im
Bilde die Bewegung als Ruhe zu geben, diese göttliche Schöpferkraft

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 14, S. 556, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-14_n0556.html)