Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 14, S. 555
Text
unserer Zeiten überwand und sich auf unsere einfachen und ursprüng-
lichen Verbindungen mit allem in der Schöpfung Eingeschlossenen besann.
Was spricht hier so besänftigend zu uns? Ist das nicht der Gott, der
auch Michel Angelo die Hand führte, der es diesmal versucht, mit
einer milden, mit einer kindesgütigen, mit kosender Stimme auf uns
einzureden? Fidus’ nackte Gestalten sind schöne nackte Seelen, und
sie erfüllen uns mit einer sanften, doch aber tiefen Scham, indem wir
ihnen mit unseren eigenen hässlichen Seelen gegenüberstehen. Und
doch ergreift uns nicht Hoffnungslosigkeit. Denn spricht nicht hier der
Bildner unsere eigene edelste Sehnsucht aus, führt er uns nicht in
jene utopischen Regionen, die wir eben nur erträumen können, weil
die wunderbaren Erfüllungsmöglichkeiten auf dem Grunde unseres
Seins wirklich vorhanden sind?
Einem grösseren Publicum konnte Fidus bisher nur durch die
Reproductionen einiger Bilder in der eingegangenen »Sphinx«, in der
»Jugend« und im »Simplicissimus« bekannt werden, ferner durch den
Buchschmuck, den viele moderne Dichterwerke von seiner Hand er-
hielten. Von dieser Production kann man nicht endgiltig auf seinen
Wesensumfang schliessen. Aber seine Gemeinde hat er durch diese
immerhin bescheidenen Veröffentlichungen doch gefunden, denn er
konnte in keiner derselben seiner Seele Bekenntnis verleugnen. Nur
eine rückständige, formal-technische Beurtheilung kann sich dem Reiz
entziehen, der in seinen nackten Gestalten wohnt und sie zu Formen-
Seelen macht. Der kennt nicht die lebendige Kunst, der nichts von
dem Banne der beweglichen, keuschen Linie weiss, als deren Finder,
Entdecker oder verzückter Offenbarer mir Fidus gilt. Und dass es so
oft das Weib ist bei Fidus? Die Frager verrathen, dass sie einen ganz
wesentlichen Zug der modernen Geistesverfassung nicht entdeckt und
capiert haben, wenn sie der ernsten Kunst vorwerfen, sie beschäftige
sich zuviel mit dem in der Sphäre des Weiblichen Gelegenen. Dass in
unserer Zeit für den Verächter wie für den Schwärmer das Weib sich
differenzierter zeigt wie früher, als das Gefäss dämonischer Elemente
uns erscheint, die zu ihrer Geltendmachung nicht erst nöthig haben,
als reale Hand am Steuerruder sich zu verkörpern, dass es deshalb so
oft als Stoff gerade für den Künstler dienen muss und dass uns alle
die Aufgabe anzieht, das protëische Gebilde in allen seinen Metamor-
phosen zu beobachten — diese Thatsache und das Warum zu er-
örtern, darf ich mir wohl ersparen. Wesentlicher als dieser allgemeine
Drang ist für Fidus, wie für jeden aus dem Grunde aller Existenz
Heraufschöpfenden ein zweites Moment. Ihm sind alle Dinge, die er
darstellt, Spiegel einer Seele, und das Weib, das Kern und Schale mit
einemmale ist, bei dem das Empfinden sich meist so decentralisiert
zeigt, dass all seine Wesens-Einzelheiten zu Kündern der kleinsten
Erregungen werden können, dessen kleiner Finger alles freiwillig ver-
räth, wenn es keinen Grund oder nicht die Kraft hat, hinter dem
Berge zu halten, dieses Weib ist für den Seelenforscher der untrüg-
lichste Spiegel menschlicher Affecte und Eigenschaften, und es zeigt
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 14, S. 555, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-14_n0555.html)