Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 15, S. 570

Der Hunger nach Kunst (Jostenoode, Harold Arjuna van)

Zum TEI/XML Dokument

Faksimile

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 15, S. 570

Text

570 JOSTENOODE.

in den letzten Jahren namentlich in Bezug auf Teppichmuster besser
geworden ist, verdanken wir einzig und allein dem Einflusse des Orients.
Ich entsinne mich noch wie der Kunstschriftsteller Charles Blanc, als
er in seinen Vorträgen im Collège de France zu Paris darauf zu
sprechen kam, mit Entrüstung ausrief: »Wir sind in der Kunst noch
reine Barbaren!« Das war im Jahre 1880 und wir haben seit dieser
Zeit so ziemlich Fortschritte gemacht. Aber wie viele zählen unter
diesem »Wir«?

Da unsere jetzigen Museen doch ihren Zweck beim Publicum
verfehlen, so sollte man daran denken, neue Einrichtungen einzuführen,
welche besser für die Bildung des Geschmackes sorgen. In Brüssel hat
ein reicher Advocat sein Haus der Stadt geschenkt, die es als Maison
d’Art dem Publicum öffnet. So sollte man auch in anderen Städten
Häuser mit voller Einrichtung dem Volke zugänglich machen. So wäre
jetzt bei Gelegenheit des Jubiläums des Kaisers Franz Josef im Jahre
1898 die Möglichkeit gegeben, ihm zu Ehren ein solches »Kaiserhaus«
in Wien zu bauen, dass wie ein Schmuckkästchen, ein deutliches Bild
der Leistungsfähigkeit unseres heutigen Kunstgewerbes in Einrichtung
und Ausstattung bieten müsste.*) Wenn man dann dort noch Special-
Ausstellungen für schöne Trachten u. s. w. und Vorträge über ästhe-
tische Gegenstände veranstaltet, so würde es zur Wiederbelebung des
künstlerischen Geistes mächtig beitragen.

Auch das Oeuvre de l’Art appliqué à la Rue A, welches in
Belgien schon viel Gutes gestiftet hat, könnte man anderswo einführen.
Dasselbe will dafür sorgen, dass die Strassen, Plätze, Häuser künstlerisch
ausgeschmückt werden. So erlässt man z. B. Concurrenz-Ausschreiben
für Laternen, für Schilder u. s. w. Alles muss stilgemäss sein, muss
sich der Umgebung anpassen. So wird der künstlerische Sinn des
Volkes allmählich gebildet.

Nicht die jungen Künstler, die sich oft für genial halten, wo sie
doch nur bizarr sind, die all zu oft ihre Inspirationen weniger aus dem
Volksleben als dem Café holen, sondern das Volk als Ganzes soll die
Richtung angeben. Erst wenn eine wirkliche Volkskunst enstanden
ist, wird der Hunger nach Kunst endlich gestillt sein.

Und alle Zeichen sprechen dafür, dass dieses Ziel erreicht werden
wird. Ueberall zeigen sich Spuren, dass das Verständnis für die Noth-
wendigkeit einer Kunsterneuerung im Wachsen begriffen ist. So hat
sich in Hamburg eine »Lehrervereinigung für die Pflege der
künstlerischen Bildung« constituiert, welcher soeben eine Schrift
durch Herrn Dr. Spamer, »Künstlerischer Bilderschmuck für Schulen«
(Commetersche Buchhandlung, Hamburg, 1897) hat herausgeben
lassen. Der Süden, der vom Hause aus so viel künstlerischer bean-
lagt ist, sollte nicht zögern, das Beispiel nachzuahmen. In Öster-


*) Anmerkung der Redaction. Theilweise sind diese Anregungen
unseres geehrten Mitarbeiters bereits praktisch verwirklicht worden. Man denke
an die letzte Weihnachtsausstellung des k. k. österr. Museums für Kunst und
Industrie.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 15, S. 570, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-15_n0570.html)