Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 15, S. 598

Key, »Missbrauchte Frauenkraft« Kämmel, »Der Werdegang des deutschen Volkes«

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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 15, S. 598

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598 NOTIZEN.

als ob man Euch geprügelt hätte:
Lieber Gott, gib uns ein Kind
und eine Ammenstube!« Aber ihre
Grundidee hat Ellen Key sehr
hübsch ausgeführt, sie macht vor-
treffliche Bemerkungen; aber sie
balanciert immer an der Klippe der
politischen Gleichheitsbestrebungen
vorbei und bewegt sich bei alle-
dem in grossen Unconsequenzen.
Sie musste weiter gehen, oder sie
durfte so weit nicht gehen. Rein
theoretisch sagt sie etwas gar zu
Selbstverständliches, praktisch führt
die Schrift zu keinem greifbaren
Resultat. Sie sagt nicht, oder
macht doch nicht klar, was die
Frauen nun eigentlich thun sollen.
Es ist gar kein Wunder, dass die
Schrift vielen Missdeutungen aus-
gesetzt war. Das Verdienstliche
an ihr ist, dass einmal von einer
Frau aus den Kreisen der Frauen-
bewegung Dinge gesagt wurden,
die von Seite der Männer als
Tyrannei, Selbstsucht, Ignoranz,
Philiströsität und Borniertheit aus-
geschrien werden. Die Natur lässt
sich nicht spotten, auch nicht,
und am wenigsten von der Frau.
Die bereits zum Gespött gewordene
moderne Bildungsphilisterei zeigt
sich vielleicht nirgends drolliger
als im Emancipationskampfe der
Frauen um Freigabe der Uni-
versitäten und Akademien. Nach-
dem die Männer angefangen haben,
den Wert dieser Institute etwas
skeptisch zu betrachten, glauben
die Frauen geistig und menschlich
besonders zu gewinnen, wenn sie
in die Hörsäle hinein dürfen. Sie
wollten einen Olymp erstürmen
und wissen nicht, dass dieser
längst gestürzt ist. Leo Berg.

Der Werdegang des deut-
schen Volkes
. Historische Richt-

linien für gebildete Leser von
Otto Kämmel. Zwei Bände.

Es ist ein die Verlagsanstalt
von F. W. Grunow in Leipzig
ehrendes Unternehmen, welches
soeben dem gebildeten Leserkreise
des deutschen Volkes vorgelegt
wird. In handlichem Format, klar
gedruckt, würdig ausgestattet und
dabei spottbillig, ist der »Werde-
gang des deutschen Volkes« ge-
eignet, ein rechtes Volksbuch zu
werden. Es ist nicht eine der
Dutzendgeschichten, wie wir schon
so viele haben, sondern ein neuer
Geist weht in ihm. Eine geschichts-
philosophische Auffassung durch-
dringt das Ganze, die es ermöglicht,
die zahllosen Einzelheiten von einem
höheren Gesichtspunkte aus zu
verstehen.

Wir möchten wünschen, dass
es ein Lesebuch werde für das
deutsche Volk. Denn in einer Zeit,
wo sich jeder mit Politik befasst,
kann man nicht genug darauf
dringen, dass das Verständnis der
Tagesereignisse bedingt werde
durch ein Durchdenken der Ver-
gangenheit. Wir möchten aber
auch den ferneren Wunsch äussern,
dass das Werk in fremde Sprachen
übersetzt werde, damit man auch
in der Fremde eine bessere Be-
kanntschaft mit dem Volke macht,
das von allen Völkern Europas
trotz seiner historischen Bedeutung
immer noch das unbekannteste
genannt werden kann. »Unbekannt
macht unbeliebt«, sagt ein nieder-
ländisches Sprichwort. In den
Niederlanden speciell wäre eine
Ausgabe in der Volkssprache ge-
wiss von grossem Nutzen für die
Annäherung beider Völker. Denn
wenn Kämmel am Schlusse sagt:
»Die Aufgabe der deutschen Poli-

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 15, S. 598, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-15_n0598.html)