Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 15, S. 599

Kämmel, »Der Werdegang des deutschen Volkes« Rosée, »Der sterbende Ahasver«

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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 15, S. 599

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NOTIZEN. 599

tik sei für die nähere Zukunft nach
aussen die Stärkung des nationalen
Bandes mit den Deutschen Öster-
reichs«, so möchten wir noch hin-
zufügen: Auch das ist eine Haupt-
aufgabe der nächsten Zukunft, die
Wiederannäherung der Niederlande
vorzubereiten, die zum Schaden
des deutschen Volkes so lange
ihre eigenen Wege gegangen
sind, obgleich ihre wahren Inter-
essen mit denen des Reiches
identisch sind.

Was die Hauptaufgabe der Zu-
kunft sein muss, ist die Herstellung
einer volkstümlichen germanischen
Cultur. Denn schliesslich dient die
ganze politische Entwicklung nur
dem Zweck, eine nationale Ge-
sittung hervorzurufen. Nicht der
Staat, die organisierte Gesellschaft
ist die höchste Leistung des irdi-
schen Menschen, wie der Verfasser
fälschlich in seiner Einleitung meint,
sondern der Staat ist nur Mittel
zum Zweck. Die Bewegung
der Völkerwanderung schuf die
Nibelungen, die Frucht der Ritter-
zeit ist der Parzival, die Renaissance
findet ihren geistigen Ausdruck im
Faust. Diese drei höchsten Spitzen
des deutschen Volksgedankens sind
gewiss höhere Leistungen, als die
ihnen nothwendig vorausgegan-
genen poltischen Kämpfe. Man
kann sich eine politisch tief stehende
Bevölkerung denken, die ein herr-
liches Kunstwerk hervorbringt
und ein staatlich hochstehendes
Volk, welches dies nicht vermag.
Man möchte sogar glauben, dass
ein von politischen Idealen ab-
sorbiertes Volk nicht die Fähigkeit
besitzt, Kunstwerke hervorzubringen
in dem Masse, wie ein anderes,
das politisch noch unreif ist. Man
vergleiche nur die Zeit Schillers

und Goethes mit unserer eigenen
oder die Franzosen, welche die
Chansons de Roland schufen, mit,
den Zeitgenossen des Zolaprocesses.
Wir leben in einer Periode der
Staatsüberschätzung, während un-
sere grossen Geister vor 100 Jahren
die Politik unterschätzten.

Dr. Grävell

Adolf Rosée. Der sterbende
Ahasver
. Ein Stück Gegenwart
in vier Acten und einer Vorrede.
Berlin, E. Ebering. Abgesehen
davon, dass die durchaus nicht zur
Sache gehörige »Vorrede« der
breiten Erwähnung nicht wert ge-
wesen, ist sie auch in jenem
eigenthümlich brutalisierten Deutsch
geschrieben, das in gewissen
Berliner Kreisen so beliebt ist.
Aber um zur Sache zu kommen,
verbirgt sich unter dem prätentiösen
Titel dieses Buches eine viel
anspruchslosere Sache. Es ist ein
Theaterstück, dessen Dialog mit
Begabung geschrieben ist, mit
einem gewissen Bühnen-Verstand,
mit dem Geruch dessen, was wirkt.
Das ist aber auch so ziemlich
Alles. Die Handlung zerflattert in
Episoden, d. h., nie wird eine
einheitliche Linie in ihren dramati-
schen Consequenzen ausgeführt und
grosse Züge werden unmöglich
durch eine falsche und missver-
standene Individualisierungs-Sucht.
Unwesentliches wird zu breit,
Gleichgiltiges zu tragisch ge-
nommen. Das ganze Stück macht
den Eindruck, als ob ein Mann,
um aus seinem Erlebnis geistig
Capital zu schlagen, es nach allen
Seiten breit gehämmert hätte. Der
sterbende Ahasver ist natürlich
das moderne Judenthum. Aber
niemand ist weniger berufen, den
modernen Juden auf die Scene zu

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 15, S. 599, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-15_n0599.html)