Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 16, S. 620
Text
Von PETER ALTENBERG (Wien).
Sechs Uhr.
»Du musst essen, Risa, eine Wagner-Oper dauert bis eilf.
Deshalb brachte ich ja die grosse Sardines de Nantes-Büchse. So,
da hast Du drei vollkommen geschälte.«
»Wie nach einer Bergpartie isst Du! Sechs Sardinen — — —.«
»Ich habe viel gearbeitet. Was glaubst Du?! Ich freue mich
riesig auf die Oper. Erstens Deinetwegen — — —. Iss, Risa — —.
»Ich kann nichts essen. Iss Du für mich.«
»Wie vor einem Balle bist Du. Wie ein Mäderl — — —.«
»Ist es schon Zeit, zu gehen?!«
»Nein. Noch zwanzig Minuten. Sie, Marie, wenn wir weg
sind, öffnen Sie alle Fenster.«
»Warum?!« fragte Risa.
»Ich möchte nicht, dass Du in das Dumpfe zurückkämest.
Am liebsten möchte ich Dich in einen schönen, unerhört erleuch-
teten Hotel-Saal führen, wo alle Leute an den Tischen Dich an-
sähen und flüsterten: »Du, die kommt aus »Tristan« — — —.«
»Wieso weisst Du es?!« »Ich sehe es ihr an«. Risa, warum
lächelst Du?! Ich möchte jeden Augenblick die Welt aufbieten,
Dir das zu spenden, wessen Du bedürftest. Der Impresario Deiner
Seele sein, das wäre es. Aber ich treffe nur das Äusserliche.
Nun, habe ich Dir schlecht gerathen zu dieser weissgrünen Seide?!
Mein Kunstwerk!«
»Ich bin wirklich Dein Kunstwerk. Ich selbst hätte es nie
gewagt: weissgrüne Seide, von oben bis unten in Plissés. Du
nimmst es mir ab, hast meine eigenen Kühnheiten. So erlöst
Du mich von mir, von meinen Überschüssigkeiten.«
»Bleibt mir etwas anderes übrig, als Dir zuvorzukommen,
in Dir selbst?!«
»Das verstehe ich gar nicht.«
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 16, S. 620, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-16_n0620.html)