Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 17, S. 650
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praktisch von heute auf morgen, sondern nur durch eine vorher-
gehende Revolution in der Weltanschauung, die grösste, die die Mensch-
heit vollendet hat, umstürzen kann. Die neue, ungleich höhere religiöse
Weltanschauung wird dann ebenso unfehlbar ihre Consequenzen im
Leben und in der Gesellschaft ziehen, wie die erstere kindlich-
barbarische.
Bleibt nun auch der Gedanke eines Aufbaues der Cultur auf
materialistischer Grundlage utopistisch, so bleibt doch das grosse
Verdienst der Vertreter dieses Gedankens ungeschmälert, nicht bloss
verdienstvolle wissenschaftliche Forschungen über die materiellen
Grundbedingungen menschlicher Cultur angebahnt zu haben, sondern
auch breite Schichten der Bevölkerung von der alten theologischen
Weltanschauung gründlich abgelöst und aus der Knechtschaft jenseitiger
Herrschaftsphantome befreit zu haben. Für sich allein ist und bleibt
der Materialismus culturunfähig, und ist im besten Falle als Dünger
der Cultur zu betrachten, sofern diese Elemente schliesslich von dem
Keime der neuen religiösen Idee aufgesogen, sich zu organischen
Formelementen einer neuen höheren Cultur zu erheben fähig sind.
Zwischen den Jesuiten und dieser Weltanschauung des dritten Welt-
alters, die ich eine Religion des Geistes, das heisst der selbst-
bewussten Universalität des Menschen nenne, werden die marxistischen
Socialdemokraten schliesslich zu wählen haben.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 17, S. 650, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-17_n0650.html)