Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 17, S. 649

Zur Kritik des Marxismus (Schmitt, Dr. Eugen Heinrich)

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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 17, S. 649

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ZUR KRITIK DES MARXISMUS. 649

indem sie das Untergeordnete, wenn auch nothwendig Vorauszusetzende,
den Kaliban zum Herrn machen will und so das wahre Ver-
hältnis gründlich umkehrt, so bleibt auch nothwendig jeder Versuch,
auf die niederen Instincte die materiellen ökonomischen als in letzter
Instanz herrschenden zu bauen, ein kalibanischer Versuch, der
nur mit vollständiger Selbstzerstörung endigen kann.

Auf der Basis irgend einer beliebigen theo-
logischen Weltanschauung ist eine Cultur denkbar
,
aber eine solche Cultur ist unfrei, weil für die theologische
Weltanschauung der Mensch ein bloss endliches Ding, das universale
Band also ein äusserliches ist in der Gestalt des Himmelsherrschers,
des Fürsten über der Welt, dem sich die Creatur knechtisch beugen
soll, äusseren Geboten und nicht dem eigenen göttlichen
Wesen gemäss handelnd. Weltanschauung und Lebensgestaltung des
Menschen lassen sich nicht trennen und im Grossen und culturell
zieht die herrschende Weltanschauung stets ihre Consequenzen im
Leben. Die Weltanschauung ist nicht, wie der Marxismus meint, eine
passive Abspiegelung, sondern die Art und Weise, in welcher der
Mensch Himmel und Erde, sich selbst und seine Beziehungen zu den
Mitmenschen betrachtet und zur Einheit und zum lebendigen Urgrund
aller dieser Beziehungen, eine Anschauung, die dem Menschen vom
frühen Morgen bis in die Nacht vorschwebt und ihn selbst bis in
seine Träume hinein verfolgt. Es ist ganz unmöglich, dass eine solche
Anschauung nicht die tiefsten Spuren im Gemüthe des Menschen
zurücklasse und so den Willen und das Leben beeinflusse. Die falsche
Behauptung, dass die Weltanschauung blosses passives Spiegelbild
ökonomischer Lebensverhältnisse ist, wird schon durch die Thatsache
widerlegt, dass Menschen, die sich, wie bei gewissen Secten geschieht,
einer wesentlich anderen Weltanschauung anschliessen, ihr ganzes
Leben ändern, ohne dass sich in ihrer allgemeinen ökonomischen Lage
etwas geändert hätte. Dieselben Bauern oder Arbeiter sind Social-
demokraten, Anarchisten, Christlich-Sociale oder Nazarener, orthodoxe
Bauern oder Duhoborzen.

Welche ungeheure Wichtigkeit die Erhaltung und Verbreitung
der Weltanschauung hat, wissen die Vertreter der heutigen kirchlichen
Reaction sehr wohl, wie denn überhaupt die Kirche durch den
Zauberschlüssel der Weltanschauung ihre Macht über die Massen aus-
übte und ausübt.

Der Kampf um die neue, edlere Cultur ist daher
ein Kampf um die Weltanschauung
. Die Cultur der Welt-
anschauung der Theologie, welche das allumfassende, göttliche Leben
des Menschen unkritisch ausser dem Geistesleben, ausser der
Geistesfunction
des Menschen suchte, konnte, da das innere
Band in der Anschauung fehlte, nur durch die Mittel äusserer Gewalt
und Autorität, vermittelst einer geheiligten Organisation des Ver-
brechens durch Blut und Eisen verwirklicht werden. Es ist das eine
barbarische, unmenschliche Cultur, die man freilich nicht utopistisch

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 17, S. 649, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-17_n0649.html)