Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 17, S. 669
Text
Richten Sie mich, meine Herren Geschwornen; wenn Sie mich
aber verstanden haben, dann richten Sie, indem Sie mich verurtheilen,
alle Unglücklichen, die das Elend, verbündet mit dem natürlichen Stolze,
zu Verbrechern machte und die mit einem guten Auskommen ehrliche
Leute geblieben wären! Ich wünsche, dass Sie, die Sie mich zum
Tode verurtheilen werden, das Andenken an diesen Spruch so leicht
tragen mögen, wie ich meinen Kopf unter das Messer der Guillotine
legen werde.«
Ich meine, die Psychologie einer solchen ungewöhnlichen, alles
Mass überschreitenden Ausnahmsnatur, eines solchen gewaltthätigen
Angreifers, eines solchen Brechers aller Moral und alles Herkommens,
wäre dankbarer, wäre vor allem bedeutungsvoller gewesen, als die
Schilderung eines nervösen Knaben, der alsbald bereut und Busse thut.
Die Dutzendmenschen und die Dutzendmoral ist uns bekannt genug,
und dass es Schwache gibt, die beim ersten Schritt über die verbotene
Schwelle ohnmächtig zusammenbrechen, das vorzuführen kann nicht
eine der wichtigsten Aufgaben der Dichter und Propheten sein.
Wir guten, braven Bürger sind ja gegen Ansteckung von Seite
der Aussergewöhnlichen und Heroischen, die meistens böse Menschen
waren, genügend gefeit, wir bleiben brav, habt keine Sorge. Wagt
es getrost, uns zu zeigen, wie es in den Seelen der Besonderen,
der Activen, der Masslosen aussieht; und wenn ihr einen mehr oder
minder berechtigten Horror vor den Staatsactionen habt, so bleiben
euch ja immer noch die Antistaatsactionen übrig.
Man kann mir einwenden, in der flachen Hand wachse kein
Kornfeld, und ohne Modelle, oder wenigstens Studienobjecte lasse sich
keine Psychologie solcher heroischer Naturen geben. Ohne die belgischen
und nordfranzösischen Bergarbeiter hätte Zola seinen »Germinal« auch
nicht schreiben können.
Nun, meinetwegen, zugegeben. Ich weiss zwar nicht, was für
Modelle Schiller für seine »Räuber« benützt hat, vielleicht haben ihm
die Triebe in seiner eigenen Brust dafür genügt. Aber ganz gewiss
haben Kleist bei seiner Vorstellung des Michael Kohlhaas, dieses
grandiosen Verbrechers, alte Chroniken gute Dienste gethan.
Her damit! sagt Ihr mir vielleicht. Wo gibt es Menschen, die
nicht nur ihren devastierten Trieben nachgehen, wenn sie in schauriger
Weise von der Norm abweichen, sondern die sich bewussterweise
Rechenschaft ablegen über ihr Thun, die ein ungewöhnliches Mass
und Mässigkeit überschreitendes Gewissen haben? Wo gibt es Menschen,
die auch nur imstande wären, sich, nachdem sie an allem Heiligen
und Herkömmlichen gefrevelt haben, so zu vertheidigen, wie Du oben
beim Beispiel des Raskolnikow als möglich voraussetztest?
Genug gefragt. Es gibt solche Menschen. Und so sehr sie Ver-
brecher sind, so sehr gegen die Norm und darum interessant ist ihre
Psyche. Sie verdienten es, unseren Gesetzen gemäss, hingerichtet zu
werden; sie verdienen es, den Gesetzen der Ästhetik gemäss, studiert und
analysiert zu werden. Ihr habt dann für eure modernen Tragödien
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 17, S. 669, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-17_n0669.html)