Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 17, S. 668
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zur Darstellung activer Naturen kamen, wird nicht schwer zu begreifen
sein. Wo sie sich doch einmal daran machten, einen Ausnahmskerl
uns vorzuführen, da machte es ihnen unsägliche Freude, ihn zu ver-
kleinern und seine menschlichen Schwächen aufzudecken, als ob sie
uns zurufen wollten: Seht einmal diesen Napoleon, das war eigentlich
ein Mensch, wie er ebensogut in Linz geboren sein könnte, nichts
besonderes! Er war ein Träumer, ein Poet, ein Troubadour. Ein
Held? Unsinn, Helden gibt’s nicht. Allenfalls wird man ein Held,
aber man ist nie einer! —
Man erinnere sich aber noch einmal an den Naturalismus. Was
wird von ihm übrig bleiben? Und was ist heute schon, wenn nicht
vergessen, so doch kaum mehr zu gemessen? Werden die Strichelei-
künste eines Arno Holz, wo aus Princip irgend eine beliebige Wirk-
lichkeit nachgepinselt wurde, übrigbleiben, oder Zola’s Germinal?
Es ist heute schon nicht mehr die Frage. Germinal aber hat seine
Bedeutung nicht wegen der Kunstform, auch nicht weil Wirkliches
darin ist, sondern weil eine Massenbewegung vorgeführt wird, in der
Grösse, Leidenschaft, Heroismus steckt, weil es keine kalt-objective
Darstellung ist, sondern eine zornige und temperamentvolle.
Und nun wende man sich einmal zu den Seelendichtern, den
Schilderern innerlicher Vorgänge und Erlebnisse. Nehmen wir einen
der allerbedeutendsten, Dostojewskij. Ich glaube, ich werde nicht der
einzige sein, der ihm einwendet, dass er seinem Raskolnikow nicht
ganz gerecht geworden, dass er sogar parteiisch gegen ihn gewesen
ist. Ein Raskolnikow ist ein Altgläubiger; nun, wäre Dostojewskij nicht
altgläubig gewesen, so hätte sein Raskolnikow nicht unterliegen brauchen.
Raskolnikow, ein junger, ungewöhnlich begabter Student, bringt nahe
am Verhungern, in der Gewissheit, er trage eine Seele und einen
Geist in sich, den die Menschheit nicht entbehren könne, ein altes,
gemeines, wucherisches Weib um, ein Ungeziefer, wie sie wiederholt
im Laufe des Romans genannt wird. Was uns so ungemein gepackt
und interessiert hätte, das wäre die Vorführung eines Menschen, der
das thut und weiterlebt, ohne Reue, ohne sich in Verzweiflung um-
stricken, ohne sich von einem guten, frommen Mädchen zum Christen-
thum zurückführen zu lassen, eines Mannes, der sich durchsetzt, dem es
gelingt, der in die Höhe kommt. Oder der, falls die Gesellschaft stärker
ist als er, doch seinen ganzen Stolz, seine Kraft, sein Wesen bewahrt.
Einen Mann, der, falls er vor Gericht gestellt werden sollte, seine That
auf sich nimmt, der da etwa sagt:
»Ich habe gearbeitet, um zu leben und um den Meinigen zum
Leben zu geben, und so lange, wie ich und die Meinigen nicht über
das Mass gelitten haben, bin ich geblieben, was sie ehrlich nennen.
Dann gieng die Arbeit aus und mit der Arbeitslosigkeit kam der Hunger.
Da erst hat sich das Naturgesetz geltend gemacht, diese gebietende
Stimme, die sich nicht beschwichtigen lässt; der Instinct der Selbst-
erhaltung trieb mich dazu, etliche Thaten zu begehen, deren sie mich
anklagen und deren ich mich schuldig bekenne.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 17, S. 668, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-17_n0668.html)