Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 17, S. 667

Der Petschenjeg (Tschechow, Anton)

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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 17, S. 667

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ZUR PSYCHOLOGIE ACTIVER NATUREN.
Von GUSTAV LANDAUER (Friedrichshagen).
I.

Ich bin nicht der erste, der die Bemerkung macht, dass zwischen
Psychologie und Schwäche, Décadence, Weichseligkeit, oder wie man
das Ding nennen will, eine verhängnisvolle Verwandtschaft zu bestehen
scheint. Ich meine: die modernen Dichter, die sich daran machten,
psychologische Conflicte, Seelenvorgänge überhaupt darzustellen, sind,
ob sie es wollten oder nicht, fast allesammt dazu gelangt, dass die Per-
sonen, die sie uns vorführten, Empfindliche, Übersensitive, Neurasthenische,
Krankhafte, Epileptische oder Melancholiker waren. Selbst Ibsen ist
davon nicht auszunehmen. Wo er frische, aggressive, tapfere That-
menschen uns vorführt, wie im Volksfeind und Nora, da ist er noch
kein Psychologe, sowie er sich aber in die Seelen seiner Menschen
zu vertiefen anfängt, wie im Baumeister Solness, Hedda Gabler, John
Gabriel Borkmann, da haben sie alle einen Stich weg. Man denke
an Dostojewskij, an Knut Hamsun, man wird dieselbe Beobachtung
machen. Man kann auch die Gegenprobe anstellen: wir finden
active Naturen bei Tschernischewskij, sogar bei Tolstoj, besonders
auch bei Björnson (Über unsere Kraft, zweiter Theil), aber diese be-
gnügen sich mit der Schilderung äusserer Vorgänge, ihre Charaktere
entwickeln sie nicht innerlich, sie stellen sie fertig vor uns hin. So
ziemlich das einzigemal, wo Tolstoj psychologisiert, in der »Kreutzer-
sonate«, ist der Client, mit dem er sich abgibt, ein Patient, der aus
dem Mitleid mit sich selbst gar nicht herauskommt. Auf ein Beispiel,
von dem man nicht recht weiss, ob man es grotesk oder tragisch
nennen soll, brauche ich nur hinzuweisen: Strindberg.

Woher kommt’s? Man hatte genug von den unpsychologischen
Haupt- und Staatsactionen, von den rhetorischen Tiraden, von den
Posa-Posen. Man begab sich zunächst zur Wirklichkeit, zum Milien,
zum Naturalismus. Als man dann die breite Alltäglichkeit über hatte,
kam der Rückschlag, der aber keine völlige Rückkehr war. Der Wider-
wille vor aller Darstellung des Historischen, Heroischen, Freskohaften
war geblieben, wenn nicht gesteigert: wenn aber das Übermass von
Kraft, die gesunde Ausnahmsnatur als theatralisch verpönt und das
Gewöhnliche verekelt war, blieb nur noch das Schwache, Matte,
Weiche der Dekadenten übrig. Das ist der eine Grund. Der andere
ist der, dass die Psychologen es am bequemsten hatten, ihre Seelen-
studien an ihrer eigenen Person vorzunehmen; und dass sie da nicht

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 17, S. 667, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-17_n0667.html)