Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 17, S. 666
Text
weint war, aufmerksam, ohne zu blinzeln, an, mit dem naiven Aus-
druck eines kleinen Mädchens und man merkte ihrem traurigen Gesicht
an, dass sie ihn um seine Freiheit beneidete — ach, mit welcher
Wonne wäre sie selbst von hier fortgefahren! — und dass sie ihm
etwas zu sagen hatte, wahrscheinlich wollte sie ihn um einen Rath
für ihre Kinder fragen. Und wie armselig sie aussah! Das war
keine Gattin, keine Hausfrau und sogar kein Dienstbote, sondern eher
eine Geduldete, ein Nichts, eine arme Verwandte, die niemand nöthig
hatte. Ihr Mann begleitete den Gast, indem er geschäftig hin und her
lief, ohne im Sprechen innezuhalten und immer vorauseilte, und sie
schmiegte sich ängstlich mit schuldiger Miene an die Wand und wartete
immer auf einen passenden Moment, um zu sprechen anzufangen.
— Wir bitten Sie schön, wiederzukommen! — wiederholte
der Alte ohne Aufhör. — Sie müssen bei uns damit vorlieb nehmen,
was wir haben!
Der Gast stieg rasch und offenbar mit grossem Vergnügen in den
Wagen, als fürchtete er, man würde ihn aufhalten. Er blickte sich mit
einem besonderen Ausdruck nach Schmuchin um; es sah aus, als wollte
er ihm, wie einst der Geometer, Petschenjeg oder irgendwas anderes
zurufen, doch die Sanftmuth gewann die Oberhand, er überwand sich
und sagte nichts. Aber im Thorweg konnte er plötzlich nicht länger
an sich halten, er erhob sich und rief laut und zornig:
— Ich habe Sie gründlich satt!
Und verschwand hinter dem Thor.
Am Stalle standen Schmuchins Söhne: der ältere hielt eine
Flinte, der jüngere hatte einen grauen Hahn mit einem hübschen,
grellen Kamm in der Hand. Der jüngere warf den Hahn mit aller
Kraft in die Höhe, er flog über das Haus hinaus und drehte sich wie
eine Taube in der Luft um; der ältere schoss und der Hahn fiel wie
ein Stein zu Boden.
Der Alte war verblüfft, da er nicht wusste wie und wodurch er
sich diesen sonderbaren, plötzlichen Zuruf des Gastes erklären sollte
und gieng langsam ins Haus. Er setzte sich hier an den Tisch und
dachte lange über die jetzige Geistesrichtung nach, über die allgemeine
Demoralisiertheit, über diese unbegreifliche, wie besessene Jugend
Er dachte an den Telegraph, das Telephon, die Velocipeds, daran,
wie unnöthig das alles ist; allmählich beruhigte er sich, dann ass er
langsam, trank fünf Glas Thee und legte sich schlafen.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 17, S. 666, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-17_n0666.html)