Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 17, S. 665
Text
Frau und den Kindern erzählen sollen. Wozu seine schmutzige Wäsche
vor anderen waschen? Er hatte sich beklagt, ist er aber im Recht?
Die Frau ist kein Mensch, das ist schon einmal so, aber um die
Kinder müsste man sich wirklich mehr sorgen. Es ist kein Geld da,
um sie etwas lernen zu lassen, das ist wahr, warum ist aber keins da?
Darum, weil er, der Vater, rein nichts thut, sich um nichts kümmert
und seit er vom Dienst zurückgekehrt ist, kein einzigesmal auch nur
daran gedacht hat, dass man arbeiten muss, und sich die ganze Zeit
mit den lumpigen paar Groschen begnügt, die ihm die Bauern als
Pachtgeld für seine Erde zahlen.
Es verlangte ihn wieder nach wichtigen, ernsten Gedanken, er
wollte nicht denken, sondern grübeln. Und er vertiefte sich in den
Gedanken, dass es gut wäre im Angesicht des nahen Todes, um des
Seelenheils willen diesen Müssiggang aufzugeben, der unmerklich und
unwiederbringlich die Tage und die Jahre verschlingt; man müsste
sich irgend eine Heldenthat ausdenken, zum Beispiel irgend wohin
weit, weit zu Fuss hingehen, sich vom Fleisch entsagen, wie dieser
junge Mann. Und er dachte wieder an die Zeit, wo man keine Thiere
tödten wird, stellte sie sich klar und deutlich vor, als lebte er selbst
zu dieser Zeit; aber mit einemmal gieng im Kopf wieder alles durch-
einander und alles wurde unklar.
Das Gewitter hatte sich verzogen, aber ein Rand der Wolken
war geblieben, es regnete und die Tropfen trommelten leise über das
Dach. Schmuchin stand auf, ächzte vor Altersschwäche, streckte sich
und schaute in den Saal hinein. Als er merkte, dass der Gast nicht
schlief, sagte er:
— Wissen sie, bei uns auf dem Kaukasus war ein Hauptmann
auch Vegetarianer. Er ass kein Fleisch, ging nie auf die Jagd und
erlaubte seinen Leuten nicht zu fischen. Natürlich, ich verstehe das.
Ein jedes Thier muss in der Freiheit leben und das Leben geniessen;
ich verstehe bloss nicht, wie ein Schwein, wo es ihm gefällt, ohne
Aufsicht herumgehen kann?
Der Gast erhob sich und setzte sich. Sein bleiches, verschlafenes
Gesicht drückte Ärger und Müdigkeit aus; man sah, dass er ganz
abgequält war und nur seine Sanftmuth und Feinfühligkeit hinderten
ihn, seinem Ärger in Worten Luft zu machen.
— Es tagt schon — sagte er sanft. — Lassen Sie mir, bitte,
ein Pferd geben.
— Aber warum? Warten Sie bis der Regen aufhört.
— Nein, ich bitte Sie — sagte der Gast flehend und erschreckt
— ich muss durchaus sogleich fort.
Und er begann sich eilig anzukleiden.
Als man das Pferd anspannte, gieng schon die Sonne auf.
Unten, in den Pfützen spiegelten sich schüchtern die ersten Strahlen
ab. Der Advocat gieng mit seinem Portefeuille durch das Vorzimmer,
um in den Wagen zu steigen, und währenddessen sah ihn Schmuchins
Frau, die bleich, wie es schien noch bleicher als gestern, und ver-
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 17, S. 665, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-17_n0665.html)