Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 17, S. 664
Text
— Meine Ljubow Ossipowna steht auf den Knien und betet zu Gott.
Sie betet jede Nacht und neigt sich zur Erde, erstens damit die
Kinder zum Lernen fortgeschickt werden; sie fürchtet, die Kinder
werden als einfache Kosaken dienen und man wird sie dann quer
über den Rücken mit Säbeln hauen. Aber um sie lernen zu lassen
braucht man Geld, und wo soll man es hernehmen? Da kann man
mit dem Kopf die Wände einrennen, wenn es keins giebt, giebts halt
keins. Zweitens betet sie, weil, wissen Sie, eine jede Frau glaubt,
niemand auf der Welt sei unglücklicher als sie. Ich bin ein aufrichtiger
Mensch und es gibt hier, natürlich, nichts zu verheimlichen. Sie ist
aus einer armen Familie, eine Popentochter, sozusagen vom Pfaffen-
stande; ich hab’ sie geheiratet, als sie 17 Jahre alt war, und man
verheiratete sie an mich hauptsächlich deshalb, weil sie nichts zu
essen hatten, es gab dort nur Armut und Zank, und ich, sehen Sie,
habe doch immerhin Erde, eine Wirtschaft, nun und dann bin ich ja,
wie man’s auch nimmt, doch ein Officier; es schmeichelte ihr, mich
zu heiraten. Am ersten Tag nach der Hochzeit weinte sie und dann
weinte sie die ganzen zwanzig Jahre — sie hat die Augen auf dem
nassen Fleck. Und sie sitzt immer und denkt, und denkt. Und es
fragt sich, woran sie denkt? Woran kann eine Frau denken? An
nichts. Ich muss gestehen, ich zähle die Frau nicht zu den
Menschen.
Der Advocat erhob sich mit einem Ruck und setzte sich.
— Entschuldigen Sie, mir ist heiss geworden — sagte er.
— Ich werde hinausgehn.
Schmuchin schob im Vorzimmer den Riegel zurück, indem er
von den Frauen weitersprach, und beide giengen hinaus. Genau über
dem Hof glitt der Vollmond am Himmel hin, und im Mondenscheine
erschienen das Haus und die Ställe weisser als bei Tag; durch das
Gras zogen sich zwischen den schwarzen Schatten grelle Lichtstreifen
hin, die auch weiss waren. Rechts in der Ferne ist die Steppe zu
sehn, darüber leuchten still die Sterne — und alles ist geheimnisvoll
und unendlich weit, als blickte man in einen tiefen Abgrund; und
links über der Steppe thürmen sich eine auf die andere schwere
Gewitterwolken, schwarz wie Russ; ihre Ränder sind vom Mond
beleuchtet und es scheint, es sind dort Berge mit weissem Schnee
auf den Gipfeln, dunkle Wälder, ein Meer; der Blitz flackert auf,
man hört einen leisen Donner und es scheint, dass in den Bergen
ein Kampf gekämpft wird
Ganz am Hause ruft eine kleine Nachteule: »Splju, Splju!«
— Wie spät ist’s jetzt? — fragte der Gast.
— Nach ein Uhr.
— Wie weit es aber noch bis zum Sonnenaufgang ist!
Sie kehrten ins Haus zurück und legten sich wieder hin. Man
musste schlafen und gewöhnlich schläft es sich so gut vor dem Regen,
aber dem Alten bedrückte etwas die Brust, es war ihm unangenehm
und er schämte sich ein wenig, er hätte dem Gast nicht von der
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 17, S. 664, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-17_n0664.html)