Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 17, S. 663
Text
Bei ihm arbeiten Solche, die keinen Pass haben, allerlei Landstreicher,
die nicht wissen, wo sie hin sollen. Am Samstag muss mit den
Arbeitern abgerechnet werden, er hat aber keine Lust zu zahlen,
wissen Sie, es ist schade ums Geld. Da hat er sich einen Verwalter
herausgesucht, auch einen Landstreicher, wenn er auch einen Hut
trägt. »Zahle ihnen nichts« — sagt er ihm — »keine Kopeke; sie
werden Dich schlagen, sagte er — lass sie schlagen, ertrag’ es, ich
werde Dir dafür jeden Samstag zehn Rubel zahlen.« Samstag abends
kommen die Arbeiter, wie es sich gehört, nach dem Geld; der Ver-
walter sagt ihnen: »Es gibt nichts!« Nun, ein Wort gibt das andere,
bald ist man beim Schimpfen und bei der Keilerei angelangt
Man schlägt und schlägt ihn, mit Händen und Füssen — das Volk
ist, wissen Sie, vor Hunger verthiert — man schlägt ihn, bis er ohn-
mächtig wird, dann geht man aber auseinander, nach allen Seiten hin.
Jetzt lässt der Herr den Verwalter mit Wasser begiessen, dann wirft
er ihm die zehn Rubel ins Gesicht, dieser nimmt sie und freut sich
noch dabei, denn eigentlich wäre er einverstanden nicht nur für zehn,
sondern auch für drei Rubel selbst auf den Galgen zu steigen. Ja
Und am Montag kommt eine neue Arbeiterpartie; sie kommen, sie
wissen nicht, wo sie hin sollen. Am Samstag geht von neuem dieselbe
Geschichte los
Der Gast drehte sich auf die andere Seite um, kehrte das
Gesicht der Sofalehne zu und brummte etwas durch die Zähne.
— Und hier ist ein anderes Beispiel, sprach Schmuchin weiter.
— Vor einiger Zeit war hier die sibirische Seuche. Das Vieh crepierte,
sag’ ich Ihnen, wie Fliegen; es kamen Veterinäre her und es wurde
streng verordnet, das Aas weit fort tief in die Erde zu vergraben,
mit Kalk zu begiessen u. s. w., wissen Sie. Auch bei mir crepierte
ein Pferd. Ich vergrub es mit allen Vorsichtsmassregeln und goss vom
Kalk allein gegen zehn Pud darauf. Und was glauben Sie? Meine
Kerle, meine lieben Söhnchen, gruben des Nachts das Pferd heraus,
zogen ihm das Fell ab und verkauften es für drei Rubel. Da haben
Sie’s. Die Menschen sind also nicht besser geworden, denn man kann
den Wolf füttern so viel man will, er schaut immer in den Wald
zurück. Da gibt’s Stoff zum Denken! Was? Wie meinen Sie? —
An einer Seite der Fenster, in den Lädenritzen, flackerte der Blitz auf.
Es war schwül vor dem Gewitter, die Mücken stachen, und Schmuchin,
der in seinem Zimmer lag und sich seinen Betrachtungen ergab, ächzte,
stöhnte und sagte in sich selbst: »Ja , so ist’s« — es war unmöglich
einzuschlafen. Irgendwo, sehr, sehr weit grollte der Donner.
— Schlafen Sie?
— Nein, antwortete der Gast.
Schmuchin stand auf und gieng durch den Saal und das Vor-
zimmer, wobei er mit den Fersen laut auftrat, in die Küche, um
Wasser zu trinken.
— Am schlimmsten auf der Welt ist, wissen Sie, die Dumm-
heit — sagte er, als er bald darauf mit dem Krug zurückkam.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 17, S. 663, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-17_n0663.html)