Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 17, S. 662

Der Petschenjeg (Tschechow, Anton)

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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 17, S. 662

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662 TSCHECHOW.

Man machte für den Gast im Salon auf dem Divan ein Bett
zurecht und damit er nicht im Dunklen sei, zündete man ein Oel-
lämpchen an. Schmuchin legte sich in seinem Schlafzimmer hin. Und
indem er dalag, dachte er an seine Seele, an das Alter, an den letzten
Schlaganfall, der ihn so erschreckt und ihn lebhaft an den Tod
erinnert hatte Er liebte zu philosophieren, wenn er in der Stille
mit sich allein blieb, und ihm schien dann, er sei ein sehr ernster,
tiefangelegter Mensch, und beschäftige sich auf dieser Welt nur mit
wichtigen Fragen. Und jetzt dachte er immer nach und wollte bei
irgend einem Gedanken stehen bleiben, der nicht so wäre wie die andern,
sondern bedeutsamer, der ihm als Leitfaden im Leben dienen könnte,
und er wollte irgend welche Regeln für sich zurechtdenken, um auch
sein Leben ebenso ernst und tief zu machen, wie er selbst es war.
Es wäre zum Beispiel gut, wenn er, alter Mann, sich ganz vom
Fleisch und allem Überflüssigen entsagen würde. Die Zeit, in der die
Menschen weder ihresgleichen noch Thiere tödten werden, wird früher
oder später kommen, es ist anders ja gar nicht möglich, und er stellte
sich diese Zeit vor und sah deutlich sich selbst, wie er mit allen
Thieren in Frieden lebte; plötzlich erinnerte er sich an die Schweine und
in seinem Kopf gieng alles durcheinander.

— Das ist eine Sache, dass sich Gott erbarm’ — murmelte
er und seufzte schwer. — Sie schlafen? — fragte er.

— Nein.

Schmuchin erhob sich vom Bett und blieb auf der Thürschwelle
stehen, er war im Hemd und zeigte dem Gaste seine sehnigen und
wie Stöcke dürren Beine.

— Da hat man jetzt, wissen Sie — begann er — mit allerlei
Telegraphen und Telephonen, mit einem Wort mit allerhand Wunder-
dingen angefangen, aber die Menschen sind nicht besser geworden.
Man sagt, dass zu unserer Zeit, vor 30—40 Jahren, die Menschen
grob und grausam gewesen sind; ist es aber jetzt nicht ebenso? In
der That, zu meiner Zeit lebte man ohne Ceremonien. Ich erinnere
mich, als wir volle vier Monate ohne jede Arbeit an einem Fluss im
Kaukasus standen — ich war damals noch Wachtmeister — trug
sich eine Begebenheit zu, in der Art eines Romans. Gerade am Ufer
dieses Flusses, wissen Sie, wo unsere hundert Mann standen, war ein
Fürst begraben, den wir vor Kurzem getödtet hatten. Und des Nachts,
wissen Sie, kam die Witwe des Fürsten auf das Grab und weinte. Und sie
weint und stöhnt fortwährend, uns wurde davon so zu Muthe, dass
wir nicht schlafen konnten. So haben wir eine Nacht nicht geschlafen, dann
eine zweite; nun hatten wir genug davon. Und wenn man es sich
vernünftig überlegt, kann man ja nicht ohne Schlaf sein. Da packten
wir diese Fürstin, prügelten sie durch — und sie kam nicht mehr.
Da haben Sie’s. Jetzt gibt es natürlich diese Menschenkategorie nicht
mehr, man prügelt nicht, lebt reiner, es gibt mehr Wissenschaften,
aber, wissen Sie, die Seele ist dieselbe, da hat sich nichts geändert.
Sehen Sie, da lebt hier bei uns ein Gutsbesitzer. Er hat ein Bergwerk.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 17, S. 662, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-17_n0662.html)