Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 20, S. 751

Bismarck-Socialdemokraten (Schik, F.)

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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 20, S. 751

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BISMARCK-SOCIALDEMOKRATEN. 751

wie er es wünschte, erhalten bleiben müsse — umsomehr wenn
die aus der Zukunft hereinleuchtende socialdemokratische Idee
soviel Verlockendes hatte. Solange die Bismarckschen Gedanken
die bestehenden Institutionen stützten und ihnen Glanz verliehen,
konnten nur dieser politischen Sonne gänzlich abgewandte, nüchterne
Naturen Socialdemokraten sein und werden. Das Dasein Bismarcks
war für Zahllose der Grenzstein für ihre Anschauungen; nach
seiner Entlassung aus dem Amte und nun gar nach seinem Tode
ist er zum Wegweiser für die Flucht aus dem rapiden Verfalle
geworden.

Die Socialdemokratie ist nicht so engherzig, Genossen, die
in ihre Reihen treten wollen, auf welchem politischen Wege sie
auch immer zu ihnen kommen, abzuweisen. Von Seite der
Bismarck-Getreuen schickt sich ein gewaltiger Trupp geschulter
Leute an, zu ihnen zu stossen. Diese neuen Genossen werden
in den socialdemokratischen Haushalt die überkommenen Behelfe
und Mittel einbringen, mit denen Bismarck seine Zeitgenossen
überwunden und in Schach gehalten hat. Dieselben bürgerlichen
Parteien, die während der Jahrzehnte ohne Ausnahme wechselnde
Gegner Bismarcks waren, sind aber seit jeher die beständigen
Feinde der Socialdemokratie gewesen. Das Kampfobject für die
Anhänger Bismarcks wird sich also nur um die neuen Genossen
reducieren. Nach den Lehren Bismarcks haben Bündnisse nur
Interessengarantien. Die neuen Bismarck-Socialdemokraten bieten
der Natur der Dinge nach eine sichere Gewähr ihrer Verlässlich-
keit in den socialdemokratischen Reihen.

Bismarck war ein guter Mauerbrecher, und wer ihn als
solchen für sich reclamiert, dem gehört eine nahe Zukunft. Er
wollte, wie seine selbstverfasste Grabschrift offenbart, seinen Namen
nicht mit niedergehenden Elementen verknüpft wissen. Nun
werden sich die emporschiessenden Massen seiner erprobten
Kampfesmethode bedienen und damit den Aufstieg beschleunigen.
Wie oft hat sich Bismarck aus dem Feind in den Freund
verwandelt; nach seinem Tode wird sich diese Metamorphose
rücksichtlich der Socialdemokratie vollziehen. Auch der todte
Bismarck ist ein realer Machtfactor, mit dem man Allianzen
schliesst.


Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 20, S. 751, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-20_n0751.html)