Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 20, S. 752
Text
ÜBER LITERARISCHE ETHIK.
Übersetzt von Wilhelm Schölermann.
Die Hilfsquellen des Forschers stehen in genauem Verhältnis zu
seiner Zuversicht in die Kraft der intellectuellen Fähigkeiten. Diese
Hilfsquellen sind so umfassend, wie Natur und Wahrheit, können aber
nur dann gefunden werden, wenn wir bei dem Forscher eine ebenso
erhabene Grösse der Gesinnung voraussetzen dürfen. Er erkennt sie
nicht, bis ihm die Unendlichkeit und Unpersönlichkeit der intellectuellen
Kraft zum Bewusstsein gekommen ist. Wenn er erkannt hat, dass sie
weder ihm allein, noch überhaupt einem Einzelnen gehört, sondern
dass es die Seele ist, aus der die Welt entstand, dass ihm aber alles
zugänglich ist, erst dann wird er begreifen, dass er, als ihr Werkzeug,
berufen und berechtigt ist, alle Dinge in Unterordnung und Beziehung
zu ihr zu bringen. Ein gottgeweihter Pilgrim der Natur, begleitet ihn
das Weltall bei jedem seiner Schritte. Über ihm kreisen die Sonnen-
systeme, über ihm die Zeit, kaum wahrnehmbar durch ihre Eintheilung
in Monde und Jahre. Ihm ist das Jahr wie ein Athem: sein blüten-
duftender Sommertag, sein funkelnder Winterhimmel. So ziehen die
grossen Ereignisse der Weltgeschichte in steter Verwandlung an seinem
Geiste vorüber, um ihre neue Ordnung und ihren neuen Massstab
von ihm zu empfangen. Er ist die Welt und die grossen Zeitabschnitte
und Helden werden zu Vorstellungen, in denen seine Gedanken ihren
Ausdruck finden. Es gibt kein Ereignis, das nicht in der menschlichen
Seele geboren wäre und eben darum gibt es auch nichts, was die
Menschenseele nicht zu ergründen und zu interpretieren vermöchte.
Jedes Vorgefühl des Geistes wird in irgend einer That seinen gewaltigen
Ausdruck finden. Was anders sind Griechenland, Rom, England, Frank-
reich, Sanct Helena? Was anders sind Kirchen, Literaturen, Kaiserreiche?
Der neue Mensch muss fühlen, dass er neu ist und nicht zur Welt
kam belastet mit den Vorurtheilen und Gebräuchen von Europa,
*) Aus einem Vortrag, den Emerson an die Studenten der Literary
Societies von Dartmouth College schon im Jahre 1838 (also mit 35 Jahren)
gehalten hat. Da derselbe meines Wissens bisher nicht ins Deutsche übersetzt
worden ist und uns heute noch so neu und zeitgemäss erscheint, wie er
damals ohne Zweifel »unerhört neu« in seiner Auffassung gegenüber dem
herrschenden Zeitgeist erscheinen musste, so habe ich den Versuch gewagt,
die Hauptgedankenzüge in freie Übertragung zu bringen. Den ganz eigenartigen
persönlichen Reiz des Originals in dieser auszugsweisen Form wiederzugeben,
beansprucht meine Übersetzung nicht. D. Ü.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 20, S. 752, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-20_n0752.html)