Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 20, S. 753

Ein Vortrag (Emerson, R. W.)

Zum TEI/XML Dokument

Faksimile

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 20, S. 753

Text

ÜBER LITERARISCHE ETHIK. 753

Asien, Ägypten. Der Sinn für geistige Unabhängigkeit gleicht dem
Thau, in dessen feuchtem Glanz die alte trockene, magere Erdkruste
jeden Morgen verjüngt erscheint, wie von einer letzten Berührung
durch Künstlers Hand. Eine falsche Unterwürfigkeit, eine Abhängigkeit
von herrschenden Schulen oder von der Weisheit des Alterthums soll
mich nicht um den Triumph des Besitzes der gegenwärtigen Stunde
betrügen. Wer weniger Liebe zur Freiheit fühlt und seine Eigenart
weniger sorgsam hütet, hat darum kein Recht, dir und mir Vor-
schriften zu machen. Solchen Gelehrten wollen wir sagen: Wir danken
euch, wie wir auch der Geschichte dankbar sind, den Pyramiden und
den Schriftstellern; aber jetzt ist unser Tag gekommen; aus
dem ewigen Schweigen sind wir geboren; nun wollen wir leben
— für uns leben — nicht das Leichentuch der Vergangenheit nach-
schleppend, sondern als Verkünder und Schöpfer unseres Zeitalters.
Und weder Griechenland, noch Rom, noch die Drei Einheiten des
Aristoteles, noch die Heiligen Drei Könige von Köln, noch die Sorbonne,
noch die Edinburgh Revue haben länger zu befehlen. Nun wir einmal
da sind, wollen wir unsere eigene Auffassung und unseren eigenen
Massstab haben und unsere eigenen Sachen sollen erklärt und gedeutet
werden. Mag sich unterwerfen wer will: für mich müssen die Dinge
mein Mass annehmen, nicht ich das ihre. Ich will gleich dem
kriegerischen Könige ausrufen: Gott gab mir diese Krone und die
ganze Welt soll sie mir nicht rauben!

Die ganze Bedeutung der Welt- und Lebensgeschichte besteht
darin, mein Selbstvertrauen zu stärken, durch den Beweis, was der
Mensch zu leisten vermag. Dies ist die Moral der Plutarch, der
Cudworth, der Tennemanns, welche uns die Geschichte von Menschen
und Meinungen geben. Jede Geschichte der Philosophie stärkt meinen
Glauben, indem sie mir zeigt, dass die erhabenen Lehren, die ich für
die seltene und späte Frucht einer aufgehäuften Cultur hielt, nur für
einen Kant oder Fichte erreichbar, die spontanen Improvisationen der
frühesten Forscher waren: eines Parmenides, Heraclitus und Xenophanes.
Im Anblick dieser Männer scheint es, als flüstere die Seele uns zu:
»Es gibt einen besseren Weg, als dieses gedankenarme Auswendig-
lernen der Arbeit eines anderen. Lasst mich in Ruh; zwingt mich
nicht aus Leibnitz oder Schelling zu lernen; ich will das alles schon
selber herausfinden.«

Weit mehr noch schöpfen wir Kraft und Hoffnung aus der
Biographie. Willst du die Macht des Charakters erkennen, so stelle
dir einmal vor, wie du die Welt berauben würdest, wenn du das
Leben eines Milton, Shakespeare oder Plato aus der Welt schaffen
könntest — nur diese drei. Siehst du nicht, wie viel geringer die
Macht des Menschen ohne sie sein würde? Ich tröste mich in der
Armut meiner eigenen Gedanken, in den Gebrechen grosser Männer,
in der Bosheit und dem Stumpfsinn der Völker, mit diesen erhabenen
Erinnerungen, die mir zeigen, was die fruchtbare Seele zu zeugen
vermag in Berührung mit der Natur, ich sehe, dass es einen

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 20, S. 753, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-20_n0753.html)