Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 20, S. 754

Ein Vortrag (Emerson, R. W.)

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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 20, S. 754

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754 EMERSON.

Plato, einen Milton, einen Shakespeare gegeben hat: drei unum-
stössliche Thatsachen. Dann fasse ich Muth. Dann will auch ich
versuchen zu leben und zu arbeiten. Der Bescheidenste, der Hoffnungs-
loseste darf im Angesichte dieser strahlenden Thatsachen hoffen und
glauben. Trotz all der traurigen Verirrungen, die unsere Strassen mit
ihren schreienden Misstönen erfüllen, trotz Armut und Schuld, trotz
der Armee, trotz Spelunken und Gefängnissen, sind doch diese herr-
lichen Geistesoffenbarungen zutage getreten, und ich will meinen grossen
Mitmenschen für diesen aufmunternden Beweis ihres Daseins meine
Dankesschuld dadurch abtragen, dass ich mich bemühe, gerecht und
tapfer zu sein, zu streben und meinen Gedanken Worte zu geben.
Auch Plotinus und Spinoza und alle die unsterblichen Philosophen: was
die niedergeschrieben haben mit geduldigem Muth, macht mich kühn.
Nun will ich hinfort nicht mehr die Einfälle und Bilder, die in mir
aufleuchten, hastig beiseite schieben; sondern sie aufmerksam betrachten,
ihnen näher treten, mich mit ihnen vertraut machen, sie ausreifen
lassen, und aus der Vergangenheit neues echtes Leben für die Gegen-
wart schöpfen!

Um den vollen Wert dieser grossen Erscheinungen als Anregung
und Neubelebung unserer Hoffnungen zu erfassen, muss man zu der
Erkenntnis gelangen, dass jedes dieser ausgezeichneten Genies nur ein
glücklicher und geschickter Taucher in das grosse Meer gewesen ist,
dessen Perlengrund uns allen gehört. Der Jüngling, der von der Be-
geisterung für seinen Helden berauscht ist, vergisst, dass es nur eine
Projection seiner eigenen Seele ist, die er bewundert. Seine Gedanken
beschäftigen sich in stillen, einsamen Stunden mit dem Leben des
Helden und mit dem, womit es ausgefüllt gewesen sein mag. Womit
denn? Die Seele antwortet darauf: Siehe, hier ist sein Tag! Im
Säuseln dieser Wälder, in der Stille dieser kahlen grauen Stoppelfelder,
in der kühlen Brise, die aus jenen nördlichen Höhenzügen herüberweht;
in den Arbeitern, den Burschen und Mädchen, die dir entgegenkommen;
in der Hoffnung dieses Morgens, in der Langeweile des Mittags, in
der Erholung des Nachmittags; in den beunruhigenden Vergleichen,
in dem kleinmüthigen Gefühl eigener Ohnmacht, in der gewaltigen
Idee und der armseligen Ausführung: siehe des Helden Tag. Ein
anderer und doch derselbe. Siehe Chathams, Bayards, Alfreds des
Grossen, Scipios, Pericles’ Tag — Tag eines jeden, der vom Weibe
geboren. Der Unterschied in Zeit und Umständen ist nur Costüm. Ich
koste jetzt dieses selbe Leben, seine Süsse und seine Grösse und
seine Pein. Frage nicht die undurchdringlichen Geheimnisse der Ver-
gangenheit, die unwiederbringlich entflohen ist, was sie dir nicht sagen
kann — die Einzelheiten jenes Daseins, jenes Tages, genannt Byron
oder Burke — sondern frage das dich umfassende Jetzt. Je sorgsamer
du seine flüchtige Schönheit, seine erstaunlichen Einzelzüge, seine
geistigen Triebfedern, sein wunderbares Ganzes untersuchst, um so
eher wirst du die Lebensgeschichte deiner Helden und überhaupt jedes
Helden verstehen können. Sei selbst nur der Meister eines einzigen

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 20, S. 754, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-20_n0754.html)