Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 20, S. 755

Ein Vortrag (Emerson, R. W.)

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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 20, S. 755

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ÜBER LITERARISCHE ETHIK. 755

Tages, durch Weisheit und Gerechtigkeit, und du kannst deine
Geschichtsbücher getrost beiseite legen.

Ein sich Bewusstwerden dieses angeborenen Rechtes der Selbst-
bestimmung spüren wir in dem Gefühle des Schadens, den wir zu
erleiden glauben bei einem etwaigen Versuche anderer, seine mögliche
Entwicklung einzugrenzen oder in Frage zu ziehen. Wir sind sehr
empfindlich gegen eine Kritik, die uns etwas abspricht, das in der directen
Linie unseres zukünftigen Fortschritts liegt. Sage einem Schriftsteller,
dass er keine Verklärung Christi malen, kein Dampfschiff bauen oder
kein Feldmarschall werden könne, er wird sich dadurch nicht in seinen
eigenen Augen herabgesetzt fühlen; aber zweifle an seinen literarischen
oder metaphysischen Anlagen und er ist sofort verletzt. Gebe zu, dass
er Genie hat — eine Art von »plenum im stoischen Sinne« das jeden
Comparativ ausschliesst — und er ist beruhigt; aber räume ihm noch
so seltene Talente ein, während du ihm die geniale Anlage absprichst,
so wird er tiefinnerlich gekränkt sein. Warum? Einfach deshalb,
weil die Seele durch Instinct und Ahnung sich aller Kräfte versichert
fühlt, die in der Richtung ihres Strebens liegen, sowie der besonderen
Fertigkeiten, die sie bereits erworben hat.

Das intellectuelle Wachsthum ist streng analog in allen Einzel-
wesen. Es ist erweiterte Aufnahmsfähigkeit. Begabte Menschen
sind im grossen Ganzen wohlwollend und gerecht, weil ein fähiger
Mann nichts anderes ist, als ein guter, freiwirkender, gefässreicher
Organismus, in den der Universalgeist ungehindert flutet, so dass
sein gerechter Untergrund nicht nur breit, sondern unbegrenzt ist.
Alle Menschen sind gerecht und gut in abstracto; was sie im besonderen
Falle hindert, ist das Vordrängen der Neigung, der begrenzten und
persönlichen Wahrheit zu folgen, statt der grossen, allgemeinen
Wahrheit Gehör zu geben. Das ist das Merkmal unseres Incarnations-
zustandes. Der Held ist gross durch das starke Hervortreten der
Universalnatur in ihm; er braucht nur die Lippen zu öffnen und sie
spricht aus ihm; er braucht nur zum Handeln getrieben zu werden
und sie handelt durch ihn. Alle Menschen hören das Wort und
bewundern die That im Herzen, denn sie ist ihre so gut wie die
seine; aber in ihnen bringt die Krankheit ihrer individuellen
Beschränktheit sie um die gleichen Resultate. Nichts ist im Grunde
einfacher als Grösse, denn einfach sein, heisst gross sein. Der
schöpferische Gedanke kommt am ehesten zum Durchbruch, wenn
wir auf das zu geschäftige Treiben des alltäglichen Verstandes ver-
zichten und dem spontanen Gefühlseindruck den allerweitesten Spiel-
raum gewähren. Hieraus muss alles, was lebendig und genial ist,
entstehen. Die Menschen mahlen und mahlen in der Mühle der
Gemeinplätze und dabei kommt nichts anderes heraus, als was hinein-
gethan ward. Im selben Augenblick aber, wo sie die Tradition ver-
lassen, um einer ursprünglichen Idee zu folgen, eilen auch schon
Poesie, Witz, Hoffnung, Tugend, Kenntnisse und anschauliches Beispiel
zur Hilfe. Beobachtet einmal das Phänomen einer Rede aus dem

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 20, S. 755, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-20_n0755.html)