Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 20, S. 756

Ein Vortrag (Emerson, R. W.)

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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 20, S. 756

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756 EMERSON.

Stegreif. Ein Mann von gebildetem Geist aber zurückhaltendem Wesen
bewundert schweigend die Gewalt der freien, leidenschaftlichen, bilder-
reichen Worte des Redners, der zu einer Versammlung spricht. Welche
Wirkung geht da von einer Kraft aus, so verschieden von der
seinigen. Plötzlich steigt sein eigenes Gefühl empor und das Wort
drängt sich ihm auf die Zunge, so dass er sich erheben muss und
es aussprechen. Einmal angefangen, braucht er nur die Befangenheit
der ungewohnten Situation zu überwinden und er findet es ebenso
einfach und natürlich zu sprechen (in Gedankenfolgen, Gleichnissen
und rhythmischem Satzbau zu sprechen) als ruhig zu bleiben. Denn
es bedarf nicht des Handelns, sondern nur des Duldens. Er gibt nur
dem freien Geiste willig nach, der durch ihn sich äussern will, und
dann ist ihm die Bewegung ebenso natürlich und selbstverständlich,
wie die Ruhe. — — — — — — — — — — — — — — —


Wir haben uns daran gewöhnt, im allgemeinen anzunehmen,
dass alle Gedanken bereits hinreichend in Büchern niedergelegt sind,
alle Phantasien in Gedichten; was wir sagen und schreiben, sei nur
eine immer neue Bestätigung dieses Gesammtkörpers unserer Literatur.
Eine sehr flache Auffassung! Sagen wir lieber: die ganze Literatur
soll noch geschrieben werden. Die Poesie hat kaum ihr erstes Lied
gesungen. Die unausgesetzte Mahnung der Natur lautet: Die Welt ist
neu, unaufgedeckt; glaubt der Vergangenheit nicht. Ich gebe euch
die Welt heute als eine Jungfrau! — — — — — — — — — —


Aus den Hilfsquellen der Forscher ergibt sich auch das Gesetz
und die Richtschnur für sein Leben und seinen Ehrgeiz. Er soll
wissen, dass die Welt sein ist, aber er kann sie nur besitzen, indem
er sich mit dem innern Wesen der Dinge in Einklang setzt. Er muss
eine stille, bescheidene, arbeitsame und liebereiche Seele haben.

Er muss die Einsamkeit wie eine Braut umfangen. Sein Glück
und seine Traurigkeit muss er alleine tragen. Sein eigener Masstab
muss ihm genügen, seine eigene Befriedigung der einzige Lohn sein.
Und warum muss der Forscher sich zurückziehen? Um sich selbst
und seine Gedanken zu entdecken. Wenn er in der Einsamkeit sich
nach der Menge sehnt, nach Auszeichnung, so ist er nicht in der
Einsamkeit; sein Herz ist auf dem Jahrmarkt; er sieht nicht, hört
nicht, denkt nicht. Aber gehe hin und behüte und pflege dein Inneres,
meide die Gefährten; gewöhne dich an die Einsamkeit. Dann werden
die Anlagen in dir treiben und wachsen wie die Bäume im dunklen
Wald und die wilden Wiesenblumen; du wirst Dinge erleben, die du
deinen Mitmenschen sagen kannst, wenn du ihnen wieder begegnest
und die sie mit freudigem Staunen vernehmen werden.

Gehe aber nicht nur deswegen in die Einsamkeit, um gleich
darauf wieder in die Öffentlichkeit herauszutreten. Solche Einsamkeit
betrügt sich selbst, sie ist schal und unehrlich. Die »Öffentlichkeit«
kann ihre Erfahrung und ihre Erlebnisse in der Öffentlichkeit haben;

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 20, S. 756, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-20_n0756.html)