Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 20, S. 757
Text
aber sie erwartet vom Denker, dass er ihr dafür die intimen, reinen,
erhabenen Erlebnisse ersetzt, um die sie täglich betrogen wird, weil
sie verurtheilt ist, ihr Leben auf der Gasse zuzubringen. Der grosse,
gerechte, männliche Gedanke ist es, den man von dir, als dem
Bevorzugten, verlangt; und nicht das Gedränge, sondern die Einkehr
gewährt diesen Vorzug.
Nicht die örtliche Absonderung allein ist das Entscheidende,
sondern die Unabhängigkeit des Geistes von der störenden Umgebung,
und nur insofern als der Garten, das Häuschen, der Wald und die
Felsen eine Art räumlicher Hilfsmittel sind, gewinnen sie ihre
Bedeutung. Sei mit deinen Gedanken allein und alle Gegenstände
rings umher werden dir freundlich und heilig erscheinen. Poeten, die
in grossen Städten gelebt haben, sind dennoch Einsiedler gewesen.
Die Inspiration erzeugt überall Einsamkeit. Pindar, Raphaël, Michel
Angelo, Dryden lebten wohl unter der Menge; aber im Augenblick
der Eingebung umflorte sich ihr Blick. Die Aussenwelt schwindet, ihr
Auge sucht den Horizont, den ewigen Raum; die Umgebung ist ver-
gessen; sie verkehren mit Abstractionen, mit Wahrheiten, mit Ideen.
Sie sind allein mit ihrer Seele.
Natürlich dürfen wir der Einsamkeit nicht etwa eine übertriebene,
abergläubische Bedeutung beimessen. Studieren wir den Nutzen, den die
Gesellschaft und auch den, den die Einsamkeit bieten kann. Verwerten
wir beide, ohne uns ihnen zu unterwerfen. Der wahre Beweggrund,
weshalb ein tieferer Geist die Gesellschaft flieht, ist in der Absicht, sie
zu finden. Er reisst sich von der falschen los, aus Liebe zur wahren.
Was das gesellschaftliche Leben zu bieten vermag, ist bald gelernt.
Seine närrische Wiederholung von Bällen, Concerten, Spazierritten,
Theatervorstellungen sagt uns nicht mehr, als ein paar davon es können.
Hören wir auf die Stimme der Scham, auf den Wink der echten Natur,
und verstecken wir uns; schliessen wir die Thüre hinter uns ab; sammeln
wir uns zum stillen Dankgebet. Wir wollen vergangene Erfahrungen
noch einmal durchdenken und corrigieren und mit neuem und göttlichem
Leben durchdringen.
Verhängnisvoll für den Schriftsteller ist die Sucht zu glänzen:
der Schein, der unser Wesen untergräbt und zersetzt. Ein Missverstehen
des Hauptzieles nach dem sie streben, ist das Merkmal unserer Literaten,
welche, indem sie die Sprache gebrauchen — das tiefste, zarteste und
zugleich unzerstörbarste Werk menschlicher Schöpfung, und nur als
Waffe gerechten und aufrichtigen Denkens richtig angewandt — den
Genuss kennen lernen, mit diesem Werkzeug zu spielen. Indem sie
vergessen, damit in Wahrheit zu arbeiten, berauben sie es seiner
Allmacht. Der Denker soll die Vielseitigkeit seiner Anlagen nur darum
schätzen, um sie, im rechten Sinne gepflegt, zur Weisheit und Harmonie
auszubilden.
Der Genius sollte den ganzen Raum zwischen Gott (oder dem
reinen Geist) und der uneingeweihten Menge ausfüllen und verbinden.
Er muss aus der unendlichen Vernunft schöpfen auf der einen Seite,
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 20, S. 757, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-20_n0757.html)