Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 20, S. 758
Text
und in das Herz und das Fassungsvermögen der Menge eindringen auf
der andern. Aus dem einen muss er seine Kraft ziehen, in dem andern
sein Ziel suchen. Der eine Pol heisst: Göttliche Vernunft, der andere:
Gesunder Menschenverstand. Fehlt es ihm an einem dieser Endpunkte,
so wird seine Philosophie entweder niedrig und utilitarisch erscheinen,
oder zu abstract und unanwendbar für das Leben.
Der Forscher ist nur gross, wenn er dem ihn erfüllenden und
drängenden Geist freien Spielraum lässt. Diese Überzeugung bestimme
allein seine Thaten. Schlingen und Fallen umlauern ihn überall. Auch
der Erfolg birgt Gefahren in sich, manches Unbequeme, manches
Nachtheilige. Der erfolgreiche Gelehrte wird aufgesucht von Denen,
die durch seine Gedanken angeregt und begeistert wurden, ehe sie noch
selbst die strengen Bedingungen der Gedankenarbeit kennen gelernt
haben. Sie kommen zu ihm, auf dass er mit seinem Licht alle die
Räthsel durchleuchten möge, die sie auf dem Boden ihrer Seele ein-
geschrieben wähnen. Sie sind überrascht, einen armen, unwissenden
Mann zu finden, in einem einfachen, abgetragenen Rock, wie sie;
dessen Geist durchaus keinen unaufhörlichen Lichtstrom aus-
strahlt, nur dann und wann einen Gedankenblitz, von langer Dunkelheit
gefolgt; dass dieser Mann aus seinen vereinzelten Erleuchtungen keinen
Handleuchter zu beliebigem Gebrauch machen kann, um ihn hierhin und
dorthin zu geben und damit dieses und jenes dunkle Räthsel aufzuhellen.
Enttäuschung ist die Folge dieser Entdeckung. Den Gelehrten schmerzt
es, die hochfliegenden Hoffnungen der Schüler zu dämpfen, und aus
des Jünglings strahlendem Firmament ist ein Stern herabgefallen.
Hieraus erklärt sich die Neigung des Gelehrten, in Räthseln zu sprechen,
die Frage schweigend anzuhören und dann in geheimnisvollen, aus-
weichenden Worten eine Antwort zu ertheilen, statt ein Orakel über
die Dinge zu geben. Möge er nichtsdestoweniger gefasst und wahr-
haftig bleiben und in treuer Geduld warten, in dem Bewusstsein, dass
die Wahrhaftigkeit selbst im Schweigen beredt und achtenswert er-
scheint. Er öffne seine Brust jeder aufrichtigen Nachfrage und sei als
Künstler erhaben über niedere Kunststückchen. Zeigt ohne Bedenken
und ohne Rückhalt eure Methode, eure Werkzeuge, eure Mittel und
eure Erfahrung. Heisst jeden willkommen. Aus dieser erhabenen Auf-
richtigkeit und Freigiebigkeit werdet ihr höhere und immer höhere
Geheimnisse der eigenen Natur kennen lernen, welche andern mitzu-
theilen die Götter euch helfen und treiben werden.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 20, S. 758, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-20_n0758.html)