Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 20, S. 762
Text
rahmen ein schwarzhaariges, nacktes Weib wie in einem feinen Nebel
hervorquillt. Ein viertes Blatt hieng etwas abseits und ist vielfach ganz
übersehen worden. Es trug den Titel: L’amante du Christ. Am
Fusse eines mattbeleuchteten Kreuzes ist ein junges Weib in Ver-
zückung niedergesunken. Die Nacht hüllt alles in ihren geheimnis-
vollen Schatten. Aber nicht die heilige Scheu ist es, die dieses junge
Geschöpf im Schutze der Dunkelheit zu Füssen des Gekreuzigten
niedersinken lässt, sondern die verbotene Anbetung des nackten Männer-
körpers, des ganz entblössten Fleisches. Eine unwiderstehliche hysterische
Schwärmerei hat diesen keuschen Mädchenleib in Fieberschauern
niedergeworfen
Ein anderes Blatt: Paris schläft. Über der Stadt, die Nacht für
Nacht ihren wilden Cancan rasender Genussucht tanzt, schwebt vor
Tagesausbruch ein riesenhafter Nachtschmetterling. Sein Körper ist der
eines halbangekleideten Weibes. Zwischen ihren grossen Flügeln hin-
durch blickt man in das offenliegende Eingeweide. Grausige Verwesung
ist darin ausgebrochen. Bei lebendigem Leibe vermodert dieses Geschöpf.
Doch wie ein verheerender Racheengel schüttet es gleichsam aus seinem
eigenen Gedärm unzählige weibliche Larven über die Dächer, Kuppeln und
Thürme der dem Untergang geweihten Stätte — über das schlafende Paris.
Die Versuchung des heiligen Antonius. Wie oft ist sie
Gegenstand der Darstellung gewesen. Man sollte meinen, es gäbe
darin nichts neues. Rops schlägt einen überraschend ergreifenden Ton
an. Der Heilige ist vor dem Erlöser niedergekniet im Gebet. Da
plötzlich schwindet das Bildnis des Gottessohns und eine Schreck-
gestalt zerrt ihn vom Kreuze, indes die üppigen Glieder eines un-
züchtig lachenden Weibes an seine Stelle getreten sind
Das ist Rops’ Gebiet, auf dem er als unbestrittener Herrscher
seine fruchtbare Einbildungskraft zu einer zwar einseitigen aber doch
unerbittlichen Weltanschauung bis in alle Consequenzen hinein aus-
reifen liess. Natürlich meine ich damit nicht, dass ein so schöpferischer
Künstler gar nichts anderes gezeichnet hätte, als priapische oder aphro-
disische Ungeheuerlichkeiten. Weit entfernt. Rops hat vieles gemacht,
was diesem Gebiet ganz fern lag, namentlich wenn er die Sitten,
Trachten und Typen seiner flämischen Bauern und Seeleute schilderte.
Doch das führt zu weit hier. Auch auf die eigentlich fachtechnischen
Qualitäten, seine wunderbare gemischte Technik, die subtilen Linien
seiner Nadel, die energische Behandlung des Grabstichels, und die
vornehmen Tonwirkungen seiner Ätzmanier können wir an dieser
Stelle nicht weiter eingehen.
Wenn aber die führenden und tragenden Geister unter den
Künstlern der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts, die die Zeichnung
zum Ausdrucksmittel ihrer Gedanken und Empfindungen gewählt haben,
vor unseren geistigen Augen Revue passieren müssen, so wird neben
den Gavarni, Dégas oder Rafaëlli auch Félicien Rops immer eine
hervorragende und einzigartige Stellung als Sittenschilderer und Moral-
philosoph seiner Zeitepoche behaupten können.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 20, S. 762, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-20_n0762.html)