Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 21, S. 808

Ein wirklicher Brief an ein wirkliches zwölfjähriges Mädchen (Altenberg, Peter)

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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 21, S. 808

Text

808 PETER ALTENBERG.

dunsten, die Wolke nach Concentration in Tropfen. Alles, alles
war alt vor inneren Unruhen, vor überflüssigen Bewegungen,
welche den Organismus schwächen und gleichsam die chemischen
Verbindungen, Organisierungen auseinanderschütteln und ver-
hindern.

Gebt Ruhe!

Siehe! Bismarcks und Goethes Geist waren von Anbeginn
voll Ruhe. In unerschütterlichen Sicherheiten waren sie, Tag und
Nacht, zu jeder Stunde, niemals bedrängt von sich selbst, so
wenig wie die Lunge von ihrem Athmen, das Herz von seinem
Klopfen bedrängt würde!

Sie wirkten, ruhevollst!

Aus diesem Frieden wuchs die Kraft, die Grösse!

So sei Dein Herz, o Mensch! So wachse, Frauenseele!

Alles also, wie gesagt, Piroska, Piri, mein schöner Liebling,
war alt und kam mir alt vor vor lauter Jugendlichkeiten,
weil es an sich selbst rüttelte, Thore vorzeitig aufzusprengen
suchte und zu Erlösungen stürmisch zu kommen trachtete!

Da erblickte ich Dich — — —.

Da erblickte ich Dich und der heilige Friede der Unbedenk-
lichkeiten, der inneren Harmonien, mit einem Worte der von ihrem
Irrgange erlösten Welt, offenbarte sich mir in Dir!

Piroska, Piri — — —!?

In Deinen süssen Augen lag es, auf Deiner sanften Stirne
lag es, auf Deinen schimmernden Haaren lag es, in Deiner zarten
Gestalt lag es — — —.

Willenlos, vom Wollen erlöst, wunschlos, vom Wünschen
los, ohne Anfang, ohne Ende, ein in sich gesichertes Sein, lebst
Du, Piroska, wie der Stern auf seiner ihm selbst mysteriösen
Bahn, wie das Genie, welches sich verlässt auf einen Gott
in ihm!

Da sitzest Du, Piri, mein Liebling, in ewiger Jugend, nimmst
meinen freundschaftlichen Blick an in Ruhe, meinen freundschaft-
licheren Händedruck, meine sanfteste Berührung Deiner seidenen
Haare — — —.

In Ruhe lächelst Du.

Eine Blume gibst Du mir, welche ich natürlich küsse. Du
wirst nicht roth, nicht blass dabei — — —. Wie der See nicht
erröthet oder erbleicht, wenn der Dichter denselben besingt oder
sich sogar vor ihm verneigt im Abendfrieden.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 21, S. 808, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-21_n0808.html)