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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 21, S. 810

Text

EIN FRANZÖSISCHER CARICATURIST:
CHARLES LÉANDRE.
Von KARL EUGEN SCHMIDT (Paris).

Während der letzten Wahlcampagne in Frankreich hatte der
»Figaro«, dieses schlaue Kammermädchen der öffentlichen Meinung,
die gute Idee, die bekanntesten Candidaten dem Publicum in Wort
und Bild vorzuführen, und schaute sich zu dem Ende nach einem
Caricaturisten um. In Paris, wo ein Künstler auf dem andern sitzt,
sind die Zeichner von Zerrbildern nicht gerade dünn gesäet, und der
»Figaro« hatte in gewissem Sinne mit dem Embarras de richesses zu
kämpfen. Sollte er Forain oder Caran d’Ache, den phantastischen
Jean Veber oder den lyrischen Adolphe Willette nehmen? Schliesslich
wandte sich das Boulevardblatt an Charles Léandre, und sechs Wochen
lang war im »Figaro« jeden Tag die komische Fratze eines Politikers
zu sehen. Als dann die Wahl vorüber war, brachte der »Gaulois«
einen längeren Artikel an leitender Stelle, worin von der abschreckenden
Hässlichkeit dieser Politikerköpfe ein Langes und Breites geredet und
Léandre als ein bitterer Feind der Politik und als ein grausamer
psychologischer Kritiker geschildert wurde. Nach der Ansicht des
Artikelschreibers war Léandre ein boshafter Satiriker, der in seiner
Erbitterung gegen die Politik aus jedem Politikerschädel alle Nieder-
tracht und Schlechtigkeit herauslas, um sie in seinen Caricaturen
verstärkt wiederzugeben.

Als wir diesen Artikel lasen, mussten wir vom Herzen lachen,
und der am vergnügtesten mitlachte, das war Charles Léandre selbst.
Die Sache war aber auch wirklich komisch, und um die ganze Höhe
ihrer Komik ermessen zu können, muss man Léandre, diesen gut-
müthigsten und liebenswürdigsten aller Zerrbilderzeichner, persönlich
kennen. Vor mir liegt eines seiner Selbstporträts, worin er die Eigen-
thümlichkeiten seiner Erscheinung mit der nöthigen Übertreibung zu
Papier gebracht hat. Auf einem kreisrunden Bäuchlein sitzt unver-
mittelt ein ebenso runder und fast ebenso grosser Kopf, woraus zwei
Riesenaugen wie Glaskugeln herausstehen; darunter eine grosse,
klobige Nase, eine feiste Wange, welche den Mund ganz zusammen-
drückt; ein rundes Kinn, wovon ein dünnes Ziegenbärtchen hängt;
der runde Körper ruht auf ebenso runden, ganz kurzen Beinchen, und
als charakteristische Zugabe hat sich der Zeichner hinten ein anmuthig
geringeltes Schweineschwänzchen angehängt.

Wohlverstanden, so sieht Léandre auf dem von ihm selber ge-
zeichneten Selbstporträt aus, die Wirklichkeit ist etwas anders, obgleich
die Zeichnung von lächerlicher Ähnlichkeit ist. Ich erinnere mich,
dass er eines Abends im Café de la Nouvelle Athènes eine junge
und hübsche Dame zeichnete. Es wurde daraus ein abscheuliches
Gesicht mit grossem Munde, schiefer Nase, kleinen Schlitzaugen und

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 21, S. 810, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-21_n0810.html)