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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 21, S. 811

Text

EIN FRANZÖSISCHER CARICATURIST: CHARLES LÉANDRE. 811

enger Stirn. Das Original der Zeichnung war entrüstet über ein
solches Attentat auf ihre Schönheit. Sie sah in den Spiegel und
verglich ihr Porträt mit sich selbst. Da wuchs ihr Zorn zur Wuth
und sie zerriss das arme Stück Papier. War sie zornig wegen der
Ungeschicklichkeit des Zeichners? O nein, sie war ganz einfach
darüber zornig, dass das abscheuliche Bild ihrem hübschen Gesicht
so ähnlich sah. Sie hatte wirklich einen grossen Mund, eine schiefe
Nase, kleine Schlitzaugen und eine Idiotenstirne. Nur hatte dies bisher
kein Mensch bemerkt, und erst als sie dem unerbittlichen Physiognomen
Léandre zum Opfer geworden war, wurden ihre Schönheitsmängel für
jeden sichtbar.

Die Caricatur ist von jeher etwas über die Achsel angesehen
worden, meiner Ansicht nach nur deshalb mit einem Anschein von
Recht, weil so viele Leute Caricaturen zeichnen, die keine zeichnen
können. In Wirklichkeit ist es schwerer, eine gute Caricatur zu
zeichnen als ein Porträt. Jeder Mensch, der gesunde Augen und
Hände hat, kann es mit einiger Beharrlichkeit dahin bringen, ein
Gesicht einigermassen ähnlich abzuzeichnen. In diesem Gesichte aber
sofort alle von den Normalformen abweichenden charakteristischen
Eigenthümlichkeiten zu entdecken und sie so zu übertreiben, dass
die Verzerrung die Ähnlichkeit nicht geringer, sondern im
Gegentheil grösser macht, das ist eine Kunst, die man nicht
lernen kann. Das muss angeboren sein. Ein weiteres gebieterisches
sine qua non beim Caricaturenzeichnen ist die innigste Vertrautheit
mit der anatomischen Structur des Gesichtes. Man muss der unge-
heuren Nase ansehen, dass sie trotz ihrer Ungeheuerlichkeit in der
Natur so vorkommt, dass sie von einem angemessenen Knochengerüst
getragen wird und nicht nur als unnatürlicher Klumpen dahängt.
Der Porträtzeichner braucht nur der Wirklichkeit zu folgen, um eine
gute oder wenigstens annehmbare Arbeit zu liefern. Der Zerrbildner
aber muss die Wirklichkeit übertreiben, ohne die Schranken der
physischen Möglichkeit zu überschreiten. Es gibt Gesichter, die
man sehr wohl porträtieren, aber nicht carikieren kann: bei ganz
regelmässigen Zügen lässt sich keine Einzelheit übertreiben, wenn
man nicht der Ähnlichkeit schaden will und vor derartigen Gesichtern
muss die Kunst des Zerrbildners haltmachen.

Diese Gabe, in einem jeden Gesicht sofort alle Eigenthümlich-
keiten zu entdecken und durch ihre Betonung die Ähnlichkeit in der
komischesten Weise zu erhöhen, besitzt Charles Léandre in ganz
hervorragendem Masse. Die Leute, welche ihn mit dem Artikelschreiber
des »Gaulois« für einen Psychologen halten, irren sich: Psycholog ist er
nur insoweit, als das Gesicht der Spiegel der Seele ist. Was die Züge
vom Seelenleben offenbaren, das erfasst er auf den ersten Blick
sicher und untrüglich, und wenn die Politiker im »Figaro« wirklich
alle so niederträchtig aussehen, wie der »Gaulois« meint, so ist das
nicht einer boshaften Voreingenommenheit des Zeichners zuzuschreiben,
sondern ganz einfach der Thatsache, dass die Politik ein unehrliches

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 21, S. 811, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-21_n0811.html)