Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 21, S. 812
Ein französischer Caricaturist: Charles Léandre (Schmidt, Karl Eugen)
Text
Geschäft ist, das den professionellen Politikern auch äusserlich seinen
Stempel aufdrückt. Léandre selbst fragt nichts nach diesen Subtilitäten,
ihm kommt es einfach darauf an, die Formen so komisch wie möglich
zu verändern und dabei doch die grösste Ähnlichkeit mit dem Original
zu erzielen.
Als ich ihn im Anfang des Lärms für und wider Zola fragte,
auf welcher Seite er seinen Stift zu führen gedenke, antwortete er:
»Am liebsten wäre ich für Zola, aber der Mann hat ein so
komisches Gesicht, dass ich es nicht übers Herz bringen kann, ihn
durchzulassen.«
Léandre ist ein Caricaturist, das ist auch seine ganze politische
Gesinnung. Er bearbeitet mit dem gleichen Vergnügen Cavaignac
und Zola, Felix Faure und die Königin von England, Yvette Guilbert
und Mounet-Sully, Méline und Jaurès. Als vor einem Jahre der
»Figaro« in seinem Ausstellungssaale mehrere hundert Zeichnungen
Léandres zusammenbrachte, konnte man daselbst eine vollständige
Galerie aller Pariser Berühmtheiten bewundern. Und aus allen diesen
Bildern lachte den Beschauer der nämliche Humor an, der uns in
Rabelais entgegentritt. Es ist die alte gaieté gauloise.
Für das grosse Publicum ist Charles Léandre nur ein Caricaturist,
die aufmerksamen Besucher der Pariser Kunstausstellungen aber wissen,
dass er auch im ernsthaften Porträt ganz Hervorragendes leistet. Er
gehört zu den bedeutendsten Pastellisten Frankreichs und seine Bild-
nisse von Frauen und Kindern, die er uns alljährlich in der Aus-
stellung der Pastellisten bei George Petit vorführt, zeichnen sich eben-
sosehr durch Anmuth, Leben und reizende Farbengebung aus, wie
seine Caricaturen durch lärmende Fröhlichkeit. Der Pastellist Léandre
kam zur nämlichen Zeit in die Mode, wo die Redactionen der
illustrierten Zeitungen auf ihn aufmerksam wurden, und den Stamm-
gästen der Nouvelle-Athènes gereichte es nur halbwegs zur Freude,
dass ihr Genosse so berühmt und seine Arbeiten so begehrt wurden.
Denn früher sass Léandre allabendlich im Kreise seiner Freunde, und
während er mit diesen plauderte, bedeckte sich ein Blatt Papier nach
dem andern mit den komisch entstellten Fratzen der Gäste. Oft hat
er an einem Abend in dieser spielenden Weise fünf und sechs Cari-
caturen gezeichnet und die Umsitzenden pflegten die Zeichnungen
nachher in die Tasche zu stecken und mit nach Hause zu nehmen.
So entstand seinerzeit das vor zwei Jahren erschienene Album
»Les Nocturnes«, worin Léandre die hervorragendsten dieser Kaffee-
hausbilder vereinigt hatte.
Jetzt aber ist er vom Moloch der Berühmtheit ereilt worden und
kann sich gegen den Sturm der Bestellungen nicht wehren: er zeichnet
regelmäßig für die »Illustration«, den »Figaro«, das »Rire«, das »Journal
amusant«, und eine Menge kleinerer Blätter; er illustriert ein lustiges
Buch nach dem andern, und kaum ist er mit einem Pastell zu Ende
gekommen, so tritt schon ein neuer Auftraggeber herein, um sich auf
den Modellstuhl zu setzen
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 21, S. 812, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-21_n0812.html)