Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 21, S. 818
Aus den Aufzeichnungen über den amerikanischen Bürgerkrieg (1861—64) (Whitman, Walt)
Text
Wer schreibt, frage ich, wer kann je die Geschichte solcher
Scenen schreiben? Von hunderten, ja tausenden aus Nord und Süd
unverzeichneten Helden, unbekannten Heroismus, unglaublichen, unvor-
bereiteten, unvergleichlichen Verzweiflungsthaten — wer erzählt von
ihnen? Keine Geschichte verzeichnet, kein Gedicht besingt, keine
Musik verkündet diese tapfersten Männer von allen, diese Thaten.
Kein formeller Bericht eines Generals, kein Buch in der Bibliothek,
keine Spalte in der Zeitung, verewigt die Tapfersten aus Norden und
Süden, Osten und Westen. Ungenannt und ungekannt bleiben die
tapfersten Soldaten und werden es bleiben. Unsere Männlichsten —
unsere Jungen, unsere muthigen Lieblinge: kein Bild zeigt sie uns.
Der typische Fall (der zweifellos für hunderte und tausende gilt) bleibt
vermuthlich der, dass er zu irgend einem Busch oder ins Farnkraut
kriecht, nachdem er seinen Todesschuss empfangen, dort schützt er
sich eine kleine Weile, weicht Wurzeln und Gras und Erde mit seinem
rothen Blute auf — die Schlacht schreitet vor, wogt zurück, flutet
von der Scene weg, braust vorüber, und hier vielleicht unter Qualen
und Schmerzen (aber geringeren, viel geringeren, als man meint) windet
sich die letzte Schlaftrunkenheit wie eine dunkle Schlange um ihn,
die Augen verglasen im Tod und — niemand fragt weiter nach ihm —
vielleicht durchforscht die Begräbnismannschaft eine Woche später
bei Waffenstillstand die verborgene Stelle gar nicht und hier zerfällt
der Tapferste von allen auf der Mutter Erde, unbestattet und
unbekannt.
(Fortsetzung folgt.)
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 21, S. 818, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-21_n0818.html)