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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 21, S. 819

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BERLINER THEATERBRIEF.
Von LEO BERG (Berlin).

Die Berliner Theatersaison begann mit drei Directions-
änderungen
. Das »Lessing-Theater«, wo zehn Jahre lang Oscar
Blumenthal
das Scepter führte, stellte uns seinen neuen Herrn in
Dr. Otto Neumann-Hofer vor, welcher jetzt der sechste Journalist
und Kritiker ist, der vierte unter den »Modernen«, der neuerdings die
kritische Beaufsichtigung mit der Leitung grosser Theater übernahm
(Blumenthal, Lindau, Brahm, Schlenther, Loewenfeld, Neumann-Hofer).
Jedesmal fragt man sich: wie wird sich der Geschäftsmann mit dem
Kritiker vertragen? Die Erfahrung lehrt: ganz ausgezeichnet. Blumen-
thal und Lindau war es mit der Kritik ja gar nicht so ernst, und im
übrigen ist der Capitalismus kein Gewissenswecker. Mit der Moral
baut man keine Eisenbahnen, und mit der Kritik leitet man kein Theater.
Für einen gewissenhaften Kritiker gehört schon Überwindung zur
Übernahme einer Redaction, selbst in einer literarischen Zeitschrift,
weil auch der beste Redacteur zuweilen zu etwas ja sagen muss,
wozu er als Kritiker zweifellos nein sagen müsste. Ein Kritiker aber,
der sich zur Direction eines Theaters entschliesst, wirft ein schlechtes
Licht auf seine ganze kritische Vergangenheit. Denn man weiss, dass
der Theaterdirector nothgedrungen dem Kritiker Unrecht geben muss.
Es kommt schliesslich auf dasselbe hinaus, als ob ein Polizeidirector
ein Tingeltangel übernimmt. Als Kritiker ist man Kunstrichter, als
Theaterdirector Publicumdiener. Wie soll die Kritik nicht entwertet und
einflusslos werden, wenn ein Richter nach dem andern von seinem
Stuhle heruntersteigt und sich unter die »Angeklagten« mischt, als
welche ja die Directoren vor dem Forum der Kritik fast immer stehen.
Ausserdem gibt man den Banausen recht, welche der Kritik das
Bessermachen zurufen. Jetzt aber heisst es wirklich besser machen!
Die kritische Vergangenheit ist nur hinderlich, zwingt zu Lügen und
Inconsequenzen. Die »Visitenkarten, die man abgibt«, sind immer ge-
fälscht. Auf Blumenthals stand Lessing (und nicht Blumenthal-Kadelburg!),
wiewohl er jenen zu spielen nie die ernstliche Absicht hatte; auf
Brahm’s Karte stand Schiller (und nicht Hauptmann!), auf Neumann-
Hofers steht Shakespeare (und nicht Sudermann oder Wolzogen!)
Was will man damit beweisen? Dass man Lessing, Schiller, Shakespeare
noch ehrt? Oder eine Absicht, die man gar nicht hat, ein Programm,
das man nicht ausführen will? Am wenigsten beweist es für das
Können des Theaters: Denn entweder kann man die Classiker spielen,
dann ist die totale Programm-Änderung erst recht bedauerlich, oder

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 21, S. 819, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-21_n0819.html)