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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 21, S. 820

Text

820 BERG.

man kann sie nicht spielen, dann blamiert man sich, wie Brahm,
traurigen Angedenkens, mit der realistischen Aufführung von »Kabale
und Liebe«. Hat man sich dann blamiert, dann kommt man hinterher
mit der Ausrede, dass die Schauspieler auf die Classiker nicht gestimmt
seien. Im »Lessing-Theater«, dessen Bühnenverhältnisse schon gar nicht
für Shakespeare’sche Historien in meiningerhafter Ausführung passen,
und wo man ausserdem auf Heinrich V. bloss, weil dies patriotische
Schauspiel lange nicht in Berlin gespielt wurde, verfiel, ragte einzig
Adolf Klein in die tragische Höhe Shakespeares. Von der Pietät gegen
diesen zeugt übrigens die Dingelstedt’sche Bearbeitung, die voller
Rohheiten und Willkürlichkeiten ist, gerade auch nicht. Dramatisch ist
dies Werk eines der schwächsten Shakespeares; aus dem Zusammenhange
der Lancaster-Tetralogie gerissen, aber gar nicht zu verstehen und wegen
Seines dem grossen Publicum völlig fremden historischen Beiwerks
wie die meisten Historien Shakespeares für die moderne Bühne nicht
mehr zu retten.

Über die beiden andern Ereignisse des Berliner Theaters ist noch
weit weniger zu sagen. Im »Neuen Theater« sehen wir zum ersten-
male einen weiblichen Director. Nach Lautenburg, für den es nur zwei
Weltsprachen gibt: französisch und ungarisch, Frau Nuscha Butze,
für die es wahrscheinlich nur eine Literatur gibt, nämlich soweit sie
in der »Gartenlaube« zu erfahren ist. Dies Theater, in dem wir
unglaubliche Ehebett-Verwechslungen und ungenierte Entkleidungen
staunenden oder gierigen Auges gesehen, dieses Theater wird jetzt in
ein höheres Mädchenpensionat umgewandelt, für das die Directorin
in ebenso liebenswürdiger wie possierlicher Weise Reclame macht.
Dramaturgisch soll ihre ganze Familie »wahnsinnig« beschäftigt sein,
weshalb auch das erste Stück (Patriotismus, der noch Lauff überläuft)
gleich ein schauderhaftes Schauspiel war. Auch die Damen, und nicht
nur die Kritiker sollen ja heute zeigen, dass sie alles ebenso gut
können als die andern, in diesem Fall als wir Mannsleute. Ob Nuscha
Butze diesen Beweis führen wird? Man soll nicht prophezeien! Man
soll jedem Stand, jedem Beruf und jedem Geschlecht Zeit und Gelegen-
heit lassen, sich selbst zu blamieren. Das ist der wahre Liberalismus.

Von dem dritten Wandel zu reden, lohnt noch weniger. Das
»Theater unter den Linden« (jetzt »Metropol-Theater«), Berlins
schönstes Theater, das bisher durch sein Repertoire noch unter den
Theatern Berlins mitzählte, ist von seinem neuen Director in ein unteres
Possentheater mit Gesang und Ausstattung umgewandelt, d. h. zum
Rendezvousplatz der Lebewelt, die durch keinerlei Kunst, Text oder
Gesang, gern gestört sein will. Hier heisst es: Kunst oder die Vor-
bereitung zu nächtlichen Vergnügungen.

Die erste literarische Première aber kommt diesmal von Björn-
sons Sohn, Björn: »Johanna«*), die im »Deutschen Theater«
einen nur schwachen Beifall hafte. Dies Werk scheint aus einer


*) München, Leipzig, Paris. Albert Langen’s Verlag. 2. Auflage. 1898.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 21, S. 820, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-21_n0820.html)