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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 21, S. 821

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BERLINER THEATERBRIEF. 821

Kreuzung literarischer Rassen entstanden zu sein: es stammt von
J. P. Jacobsen, Hauptmann und Halbe sowie ein bischen auch von
Ibsen und Björnson Vater ab. Die Seele hat es von Jacobsen, die
weiche, undramatische, sich in Stimmungen selbst belauschende Seele,
das Scenische von Hauptmann, die orthodoxfeindliche Tendenz von
Halbe, den Emancipationskampf, der allerdings nicht activ, sondern
eine Art gewaltsamer Aufstörung traumhafter Passivität ist, von Ibsen,
und die specielle Wendung der Frauenfrage von Björnson Vater. Es
ist kein grosses und kein tiefes Werk, aber eine feinsinnige Arbeit,
der die Kritik, wahrscheinlich infolge der schlechten Aufführung,
nicht gerecht wurde. Das seelische und schliesslich aufrüttelnde
Ereignis dieses Schauspiels ist etwas sehr Undramatisches: das
plötzliche Hineinfallen einer hellen Lebenssonne in die stille, kleine
und dumpfe Welt eines jungen Mädchens, der Clavierlehrerin
Johanna Sylow, die eines Tages im Hause des reichen Consuls
Svendsen entdeckt wird und nun in die andere, freiere, lichte Welt
hinübergezogen werden soll, während sie hier gewaltsam durch den
finsteren Geist ihres Verlobten, der, tendenziös genug, Theologe ist,
festgehalten wird. Es ist eine Art Sonnen-Aufgangs-Drama der Frauen-
emancipation. »Sie sind ja Künstlerin,« sagt ihr der Dichter Ström,
»mit jeder Faser! Sozusagen: Vollblut! Ohne Anhang, ja, verzeihen
Sie! — von Familienrücksichten und dergleichen. Und mit einem
Willen — so fest auf einen Gedanken gerichtet: etwas zu werden,
von dem Glanz ausgeht Nein, nein, so etwas lässt sich nicht
machen mit einem Diener Gottes vor Anker oben in einem öden
Pfarrhof, der Sie und Ihre Kunst angähnt. Da werden Sie hübsch
heim müssen vor der Zeit.«

Dies ist der Angelpunkt des Dramas. Wie glücklich war sie am
Morgen, nachdem sie bei Svendsen gespielt: »Es ist heut alles so licht
und hell.« Alles war so liebenswürdig, so frei, so entgegenkommend.
Der Flügel klang von selber unter ihren Fingern. Eine ganz neue
Welt mit tausend Hoffnungen und Freuden steht plötzlich mit weit
offenen Thoren vor ihr. Man will sie starten. Sie will auf eine grosse
Kunstreise. Sie möchte es gerne durchs offene Fenster hinausschreien,
wie unsagbar froh sie ist. Und darum muss sie den Anker lichten.
Und dies wird das Drama. Trotz der Tendenz in seiner dramatischen
Stellung ist dieser Theologe doch eine lebenswahre, zuweilen sogar
ergreifende Gestalt, ein Mensch, der, wiewohl er Unrecht haben soll
im Stück, doch Recht hat für sich; ein Zeichen, dass dem Dichter
das Menschliche und Poetische über den Kopf oder über die Tendenz
hinweg gewachsen ist. Denn für Otar ist Johannas Kunst das Feindliche,
nicht nur weil er Theologe ist und ihm eine fremde Welt damit ent-
gegentritt; er liebt sie und die Kunst ist es, die neue Seelen-Welt,
die sie ihm rauben wird. Er ist zu schweren Geistes, um mit ihr den
Sprung zu machen, darum legt er sich ihr vor Anker, um sie fest-
zuhalten in seiner Welt. Aber das neue Seelchen ist flügge geworden
und fliegt ihm von dannen. Beide kämpfen sie um sich selbst; sie,

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 21, S. 821, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-21_n0821.html)