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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 21, S. 822

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822 BERG.

die Kunst, für ihre Freiheit, den freien Flug hinaus, er für seine
Existenz. Sein Bann ist philistrischer Egoismus, aber ihre Flucht
ist Verrath ».

Das Drama aber wäre grösser und freier geworden, wenn Licht
und Schatten gerechter vertheilt worden wären. Im Gegensatz zu
dieser gar zu deutlichen Tendenz sind andere Theile des Schauspiels
wieder zu unklar gehalten. Z. B. der Dichter Ström und Johannas
Verhältnis zu ihm. Er ist ihr ein Bote aus der neuen, freien, lichten
Welt, der Verführer, der Luzifer. Aber er ist ein wenig Charlatan,
und es will mir fast scheinen, als ob in dieser Gestalt etwas wie Selbst-
satire und Selbstkritik des Dramas herauskäme. Wenn ein Weib einen
Mann verlässt, um dem Rufe eines anderen zu folgen, so ist das schon
Untreue. Von hier aus hat der Bräutigam noch einmal Recht. Sehr
aufdringlich kommt andererseits wieder die Tendenz in dem Onkel
Johannas heraus, der so etwas wie Chorus- und Schrittmacher der
Emancipation ist. Er will sie in eine höhere Wagenclasse setzen und
macht sie dem Theologen abspenstig, und er ist es, der diesen zum
Kampf aufstört.

Trotzdem fehlt es dem Drama an Contouren. Das eigentliche
Schauspiel schwebt, unausgesprochen, zwischen den Lippen. Es ist
vieles mit grösser Zartheit ausgedrückt. Das Drama spielt in der
weichen Luft halbdämmernder Seelenstimmung, worin es an Hauptmanns
»Einsame Menschen« erinnert, aber die ein greller Ruf des Tages leise
erzittern macht. Der Sturm braust über den Köpfen hinweg, während
es in der Sphäre der Seelen ziemlich ruhig bleibt. Es ist keine
Bewegung von innen heraus. Es hat daher alles einen doppelten
Klang. Die Seelen stossen mit feinem oder dumpfem Klang zusammen,
und zwischen durch macht jemand Spectakel hinein. Die Menschen
sprechen leise und gedämpft, aber es lärmt noch jemand über sie
hinweg und überschreit ihre Stimmen. Die Schauspieler sprachen die
kalte, fremde und banale Oberstimme. Das feinere Unterhalb des
Schauspiels kam nicht zur Aufführung und schimmerte kaum hie und
da durch. Ausserdem haben beide Dramen, das Oben und das Unten,
ein verschiedenes Tempo. Das gibt dem Werke einen widerspruchs-
vollen künstlerischen Ausdruck. Das Aussendrama ist immer wo
anders, als wo das Innendrama ist. Während dies erst im halben
Traume dem neuen Tage entgegendämmert, ist jenes schon im rauhen
Zanke mit dem alten. Der Traum ist in den hellen Sonnenschein
verschoben, der Tag dämmert und brennt zugleich. Das tiefere Drama
kommt nicht zum Fortgang, das äussere überstürzt sich. Der Schau-
spieler in Björn Björnson hat dem Dichter das Wort abgeschnitten,
und der Zeitmensch hat die Worte ausgesprochen, die dem Dichter
noch nicht von der Zunge waren.


Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 21, S. 822, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-21_n0822.html)