Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 21, S. 817

Aus den Aufzeichnungen über den amerikanischen Bürgerkrieg (1861—64) (Whitman, Walt)

Zum TEI/XML Dokument

Faksimile

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 21, S. 817

Text

AUFZEICHNUNGEN ÜBER DEN AMERIKANISCHEN BÜRGERKRIEG. 817

— zweihundert bis dreihundert arme Kerle — das Schreien und
Stöhnen! Der Blutgeruch, vermischt mit dem frischen Duft der Nacht,
der Gräser und Bäume — welch ein Schlächterhaus! O gut, dass
ihre Mütter, ihre Schwestern sie nicht sehen, nicht denken können,
nie dachten, dass solches möglich sei. Ein Mann ist von einem
Granatenstück in Arm und Bein geschossen, beide sind amputiert,
daneben liegen die weggeworfenen Gliedmassen. Einige haben die
Beine weggesprengt, einige Kugeln durch die Brust, einige unbe-
schreiblich fürchterliche Wunden im Gesicht oder im Kopf, alle ver-
stümmelt, halb ohnmächtig vor Übelkeit, zerfetzt, ausgebohrt — einige
im Unterleib — einige noch Knaben; sehr viele Rebellen, schlimm
verwundet, kommen an ihre Reihe mit den andern und wie die andern,
die Ärzte verfahren mit ihnen auf die gleiche Weise. So sieht der
Verbandplatz aus, der Ort der Verwundeten — ein Fragment, ein
Spiegelbild des blutigen Schauspieles in der Ferne — während über
allem, der klare, grosse Mond zuzeiten sanft und ruhig scheinend
hervortritt. Inmitten der Wälder diese Scenen entschwebender Seelen
— inmitten des Krachens und Donnerns und all den heulenden,
johlenden Tönen der ungreifbare Duft des Waldes und dazwischen
wieder der stechende, erstickende Rauch — das Strahlen des Mondes,
der vom Himmel so friedlich herabsieht — das Helldunkel hoch oben,
die wogenden Oceane der Höhe über ihnen, einige wenige friedliche
Sterne, die schweigend und lässig hervorkommen und wieder ver-
schwinden, die melancholische, sammtene Nacht über allem, um alles.
Und unten auf den Feldern, auf den Strassen und im Walde der
Kampf, wie es nie einen verzweifelteren in irgend welchen Zeiten und
Ländern gab, beide Parteien nun in Vollzahl, Massen auf allen Seiten,
kein Amateurgefecht, kein halbes Spiel, sondern wildwüthende Teufel,
die in Kampf gerathen, Muth und Todesverachtung die Regel, fast
ohne Ausnahmen.

Welche Geschichte kann je das rasende entschlossene Ringen
der Armeen in all ihren einzelnen grossen und kleinen Détachements
— gleich diesen — jedes vom Haupt bis zu Fuss in verzweifelte,
tödtliche Aufgaben gestürzt — berichten, wer überhaupt es wissen und
übersehen? Wer die Handgemenge alle kennen, die zahllosen Hand-
gemenge im Dunkeln, in diesen schattigdichten, auflodernden, mond-
überstrahlten Wäldern, die ringenden Gruppen und Schwadronen, das
Geschrei und Gewühl, das Krachen der Gewehre und Pistolen, die
fernen Kanonen, das Hurrahrufen, das Schreien und Drohen und die
entsetzliche Musik der Flüche — die unbeschreibliche Verwirrung —
die Commandorufe der Officiere, das Zureden und Anfeuern, alle
Teufel im menschlichen Herzen gehörig aufgestachelt — der mächtige
Ruf: »Charge, men, charge!« das Blitzen der nackten Degen,
die rollenden Flammen und der Rauch. Und immer noch der
zerrissene, klare und bewölkte Himmel, und immer wieder das
Mondlicht, das silberig und sanft seine strahlenden Streifen über
das Ganze wirft.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 21, S. 817, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-21_n0817.html)