Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 22, S. 860

Das Schicksal der Kaiserin (d’Annunzio, Gabriele)

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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 22, S. 860

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860 D’ANNUNZIO.

Das war Nausikaas Erde, das war Odysseus’ Meer, der neun Jahre
um Helena kämpft, um die weissarmige Helena, deren Vater ein Gott
gewesen. Wie der Laërtiade, so hat auch diese Pilgerin des Nordens
im Rund eines jonischen Hafens ihre Zuflucht gefunden »nach un-
zähligen erduldeten Leiden«. Die Augen, welche einstmals an den
Küsten des baltischen Meeres im fahlen Sonnenlicht die irdischen
Dinge wie umhüllt von goldenem Duft sahen, diese selben Augen
erkannten im heissen Sand die Spuren erhabenen Lebens, sahen
die noch lebenden Wurzeln von Sagen in den Wogen des singen-
den Meeres. So wandelten sich ihr die Gesichte in einer fortdauern-
den tiefen Vision. Und eines Sonnenabends erkannten sie Sapphos
Leib, bleicher noch als Gras, das die Sonne durchglüht hat, verzehrt
von Sehnsucht, sanft dahintreibend in dem warmen Salze, das um die
Lippen des keuchenden Meeres schäumte.

Ein lateinischer Dichter muss es sein, der das Lob dieser kaiser-
lichen Fremden sänge. Sie wusste sich eine Welt zu schaffen und
darin nach den Kräften ihrer frei gewordenen Seele zu leben. Sie sei
verherrlicht! Vielleicht wäre sie untergetaucht im Vergessen der
Menschen, wenn ihr Bild nicht durch die Macht des Eisens heftig
aus dem Schatten getreten wäre in purpurnem Glanze. Man muss
verherrlichen die streng geschlossene Schönheit ihres Antlitzes mit
den unbeweglichen Zügen unter der schweren Last der herbstlich
gefärbten Flechten, ihre Blässe, die leuchtete unter dem Schatten des
Blutes, welches das Rund der grossen Brauen bläulich färbte, des
Schweigens dieses herben Mundes, und ihre Seele, ihre geheimnisvolle
Seele, welche in ihrer Mitte jenes Medusenhaupt trug, mit welchem
Pallas ihren goldenen Schild bewehrte.


Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 22, S. 860, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-22_n0860.html)