Faksimile

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 22, S. 861

Text

NOTIZEN.
OPER.

Das Wiener Hofopern-
theater
hat vor wenigen Tagen
eine Aufführung der Trilogie
Richard Wagners »Der Ring des
Nibelungen« beschlossen. Das In-
stitut entwickelte aus diesem An-
lasse einen ungewöhnlichen Reich-
thum an theilweise neu gewonnenen
Kräften, grossen Eifer und ein
Mass des Verständnisses für das
gewaltige Werk, die sich erfreulich
von dem Schlendrian früherer
Jahre abhoben. Der ganze Cha-
rakter der Aufführung spiegelte
die geistige Physiognomie des
derzeitigen Leiters unserer Hof-
oper, Gustav Mahlers. Grössten-
theils, wie wir gerne anerkennen,
zum Vortheile des Werkes. Hoher
Ernst und ein gewisser produc-
tiver Respect vor der Aufgabe,
gesteigerter Enthusiasmus der Mit-
wirkenden bei wohlthuender Cor-
rectheit ihrer Leistungen, ein
lobenswertes Streben nach Ver-
deutlichung der dramatischen Ab-
sichten und viel poetischer Sinn
im Erfassen des Details vereinigten
sich, um auch die Aufnahms-
fähigkeit der Zuhörerschaft zu
erhöhen, die, unter dem Banne
des Ungewöhnlichen, den durch
die Musik Wagners in so genialer
Weise vertieften Bühnenvorgängen
ohne jede Ermattung folgte. Die
Wiener Aufführung der Trilogie
ist derzeit auf so gutem Wege
zur Vollkommenheit, dass der un-
ermüdliche Director sich gewiss
angespornt fühlen wird, sein Ziel
bis ans Ende zu verfolgen. Er

besitzt, wie wir annehmen, zu viel
kritisches Bewusstsein und sach-
lichen Sinn, um sich durch lob-
hudelndes Evoë (»Bayreuth ist
unnöthig geworden« etc.) zum
Ausruhen auf den gegenwärtig
errungenen und wohlverdienten
Lorbeeren verführen zu lassen.
Eine empfindliche Schwäche der
Wiener Aufführung bildet das
Ausstattungswesen. Sein durch-
gehender Mangel ist die fehlende
Einheitlichkeit. Die decorative Auf-
gabe muss in einem solchen, der
Kunst des Malers grosse Probleme
bietenden Falle, von einem scharf
blickenden Auge erfasst und von
einer starken Künstlerhand durch-
geführt sein. Sonst kommt Stück-
werk heraus, wie wir es hier zu
sehen bekommen. Die Ausstattung
der Nibelungen in Wien macht den
Eindruck eines geflickten Kleides.
Sie ist aus verschiedenen, nicht
durchgehends geschickten Händen
hervorgegangen. Stilistisch weitaus
die beste ist die decorative Aus-
stattung der »Walküre«, die Josef
Hoffmann erfolgreich mit der
ernsten Grösse der Handlung zu
stimmen wusste. Doch ist sie heute
nicht mehr in Gänze das Werk
Hoffmanns. Die Bedürfnisse der
Bühne haben mancherlei Verän-
derungen nothwendig gemacht —
ein Ausgleich, den nur der Künstler
selbst unter Aufrechthaltung seiner
sehr zielbewussten Absichten hätte
zuwege bringen müssen. Auch
ist die Einheit des Colorits durch
mancherlei Übermalungen und Auf-
frischungen verloren gegangen.
Ganz antiquiert und ohne jeden

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 22, S. 861, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-22_n0861.html)