Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 1, S. 12

Das Tagebuch eines Bettlers (Eloesser, Arthur)

Zum TEI/XML Dokument

Faksimile

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 1, S. 12

Text

ELOESSER: DAS TAGEBUCH EINES BETTLERS.

gegenübertrat, er brauchte ihre Gründe,
ihre elenden Blasphemien nicht zu kennen,
nicht einmal anzuhören, hatte er doch die
Stimme des Herrn selbst aus dem brennenden
Dornbusch gehört. Er war der eifernde Pro-
phet, kein Schriftsteller, sondern ein Horcher
und Seher, und da er sich nicht der ge-
wöhnlichen Menschenlogik bediente, sind
seine Schriften oft absurd, zerrissen, un-
lesbar, aber deshalb gehören auch einige
seiner Seiten in ihrem heiligen Zorn, in
ihrer heftig explodierenden Überkraft zum
Hinreissendsten, was je ein Mensch ge-
schrieben.

Hello war ein Ignorant, der sich eines
Tages vermass, das vornehmste Gebäude
des Teufels, die deutsche Philosophie, über
den Haufen zu stürzen, ohne dass er mehr
als die Namen von Kant, Fichte, Hegel
kannte. Léon Bloy, nicht minder stark im
Glauben und mit nicht geringerer Ver-
achtung gegen Andersdenkende, hat alle
Schulen der Philosophie durchlaufen, er
handhabt, wenn er will, das Rüstzeug der
modernen Wissenschaft und er kennt die
Gegner, auf die er schlägt. Er ist ein viel-
seitiger Schriftsteller, Exegetiker, Histori-
ker, Pamphletist, Novellist und Romancier —
und er hält sich für den ersten lebenden
Schriftsteller Frankreichs. Er ist es auch —
aber nur in Momenten, wie Hello.

In seinem Roman »Le Désespéré« hat
sich Bloy unter dem Namen Cain Marchenoir
als den Verzweifelten, den Ausgestossenen
und Verfluchten geschildert. Das Buch ist
ungleich, schlecht disponiert, ungeschickt
und ungeschult, bald ungestüm vorwärts-
schreitend, bald Vergessenes langathmig
nachholend, aber zuweilen erhebt es sich
zu einer Einfachheit und Grösse, zu einem
so erschütternden Bekenntnis menschlichen
Elends und tiefsten Leidens, dass alle Stil-
cultur der modernen Franzosen daneben in
ein Nichts verschwindet. Er hat Worte, die
aus der Tiefe kommen, Klagen steigen aus
einem Abgrund von Schmerzen, die nur die
Unglücklichsten kennen, man fühlt: hier
spricht ein Mann, der ein furchtbares
Schicksal zu tragen hat und der nicht zu-
sammenbrechen darf, weil er Gott gehört.

Der »Verzweifelte« schilderte die Jugend
des Verfassers, das neuerschienene Tage-
buch ist die Fortsetzung dieser Autobio-
graphie. Sie beginnt mit einem Bekenntnis

des Hasses. Der Vater war Freidenker. Cain
Marchenoir hasste ihn wegen seiner Ketzerei,
er hasste ihn, weil er ihn erzeugt hatte in
der sündigen Fortpflanzung aller mensch-
lichen Creatur. Verachtung gegen Ver-
achtung — das war das Verhältnis von
Vater zu Sohn. Er kommt jung nach Paris;
ein kleines Amt, das ihn ernähren sollte,
gibt er bald auf, er fristet sein Leben,
wie es der Zufall bringt. Er kann sich
der Gesellschaft nicht acclimatisieren, jeden
Tag beginnt der Kampf und die Über-
windung für ihn aufs neue. Niemand
hilft dem einsamen, wilden, hochmüthigen
Menschen, der zu stark ist, um Mitleid
zu erwecken, zu bedeutend, um geleitet zu
werden. Bloy scheint einer anderen Zeit
anzugehören, in einem früheren Jahrhundert
wäre er ein Kreuzfahrer, ein Bussprediger
geworden. Er wirft einige Bücher auf den
literarischen Markt, die für das Publicum
zu dunkel und zu schwer sind, er schreibt
Pamphlete, in denen er die ganze Gesell-
schaft herausfordert, sicher, in diesem
Kampfe besiegt zu werden, und doch
gleichgiltig gegen die Folgen.

Man wird auf seine Bedeutung aufmerk-
sam, und er hat einige Stunden der Be-
rühmtheit. Der »Figaro« nimmt Leitartikel
von ihm wie später der »Gil Blas«. Die
findigen Redacteure erwarten von ihm
Sensation, und mit Recht; denn er ver-
steht die Literatur überhaupt nur als
Pamphlet. Aber er entsetzt sie bald durch
seine absolute Rücksichtslosigkeit, mit der
er nach allen Seiten losschlägt, er kennt
überhaupt nur eine Politik, sein Leben
für seine Sache hinzugeben, und wenn
man ihn umschlingen und einpflanzen
will, schneidet er ohne Besinnen seine
Wurzeln ab, er lässt sich in die Misère
zurückfallen. In seinem Roman hat er
eine Soiree des »Figaro« beschrieben, wo
er den Freunden und Mitarbeitern des
Weltblattes wie ein fremdes Raubthier
vorgestellt wird. Als eine »Bande von
Verbrechern und Eseln« bezeichnet er
die Zierden des französischen Parnasses.
Léon Bloy kritisiert nicht, er theilt Fuss-
tritte aus. Daudet ist ein niederer Copist
von Dickens, Zola ein Idiot, Coppée
der verächtliche Freund aller Welt, Huys-
mans züchtet künstliche Blumen in Nacht-
töpfen. Den wildesten Hass hat er auf

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 1, S. 12, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-01-01_n0012.html)