Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 2, S. 44

Über das Interessante im Bösen (Rubinstein, Dr. Susanna)

Zum TEI/XML Dokument

Faksimile

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 2, S. 44

Text

RUBINSTEIN: ÜBER DAS INTERESSANTE IM BÖSEN.

vom Himmelreich verstossenen Erzengel
Raphael wurde der Fürst der Hölle, Lucifer.
Hingegen ist nach dem Ausspruch eines
hervorragenden naturwissenschaftlichen Ge-
lehrten das Böse die primärste Äusserung
in der biologischen Sphäre; Prof. C.
Rokitansky (sen.) sagt nämlich, dass der
aggressive Charakter des protoplasmatischen
Urthiers schon ein Ausdruck des Bösen
sei. Indes kann das protoplasmatische Ur-
thier für die von Hunger getriebene Ag-
gression nicht verantwortlich gemacht
werden, als Äusserung des Bösen erscheint
sie nur vor dem menschlichen Urtheil; die
sittliche Unterscheidung von gut und bös
geht unbedingt vom bewussten logischen
Denken aus. Die logische Function, die im
kritischen Beleuchten von Vordergrund-
Vorstellungen durch einschlägige Associa-
tionen besteht, ist eine unabweisliche
Grundlage für das sittliche Handeln.
Trotzdem aber, dass die sittliche Moti-
vation auf Logocität und Associations-
gruppen — somit auf etwas Erworbenem
beruht — so ist gleichwohl die Anlage
zu gut und bös auch angeboren, ähnlich
wie die Kunstleistung auf erworbener Aus-
bildung beruht, zu welcher aber auch
Anlage erforderlich ist. Im grossen und
ganzen liegt in der Integrität der Nerven-
function und in der vorherrschenden
Thätigkeit der Grosshirnrinde mit der
höhern intelligiblen Begabung zugleich
die Anlage zur Sittlichkeit verbunden. In
ungünstiger Nervenbeschaffenheit und in
vorherrschender Thätigkeit der subcorticalen
Region, also des Kleinhirns, das der Herd der
sinnlichen und selbstischen Empfindungen,
ist die Anlage zum Bösen gegeben. Ver-
feinerte und gesteigerte Ausbildung im
ersten Fall, und Abnormität und De-
generation im zweiten Fall, bilden die
körperlichen Substrate des Edlen und des
Grausamen. Alle diejenigen, die für die
Hingabe an eine Idee in Kerkermauern, oder
auf frommes Gebot durchs Feuer umkamen,
haben sich durch edlen Schädelbau (bei ver-
schiedenem Gewicht) ausgezeichnet, wie alle
bestialischen Mordgesellen, nach Schröder,
von der Kolks, Lombrosos und anderer
Lehre Abnormitäten der Gehirnbildung
aufweisen. Prof. Meynert bezeichnet in
einer Stelle seiner ausgezeichneten »populär-
wissenschaftlichen Vorträge« (p. 165), das

in der Grosshirnsphäre basierende Ich, als
das »mutualistische Ich«, es ist das vor-
stellungsreiche, intelligente Ich der sittlich
gearteten Persönlichkeit, die mitempfindend
für andere ist und sich solidarisch ver-
bunden mit ihnen fühlt. Und das in
seiner Charakterbeschaffenheit diesem ent-
gegengesetzte und mit den Wurzelfasern
seiner Empfindung im Kleinhirn einge-
senkte Ich nennt er das »parasitische
Ich«. Eigentlich ist die vom subcorticalen
Centrum beherrschte subjectivistisch sinn-
liche Sphäre die primäre Lebenssphäre
jedes Menschen, allein der mutualistisch
angelegte Mensch entwindet sich ihr
mit der Zunahme seines Vorstellungs-
besitzes und der Erweiterung seines In-
tellects, wogegen der weniger Begabte
und weniger Strebsame an der Ursprungs-
quelle egoistisch engherziger Triebkräfte
haften bleibt. Zu den gegebenen Natur-
anlagen kommt noch als weiterer Factor
das Milieu hinzu, das diesen Zug fördert,
jenen unterdrückt — um den Unterschied
in den zwei Haupttypen des Menschen-
thums auszuarbeiten. Wie das mutua-
listische Ich auf den Altruismus gestimmt
ist, so ist das parasitische Ich ganz und
ausschliesslich auf den Egoismus gestimmt.
Selbst das erstere Ich ist bei aller seiner
mitfühlenden Güte, bei aller seiner gross-
müthigen Werkthätigkeit dennoch in seinen
Tiefen nicht ganz frei von Gegenansprüchen,
von Ansprüchen auf Dank, auf Ehrung
und Bevorzugung. Der gute Mensch steht
nicht an, seine Thathandlung und seine
Hilfsmittel andern angedeihen zu lassen,
doch wird er dabei nicht so weit gehen,
um seine eigenen Interessen aufs Spiel
zu setzen, weit weniger sie aufzugeben.
Das thut aber die edle Persönlichkeit; als
nahes Beispiel Zola im schmachvollen
Dreyfus-Handel; der Edle geht noch
weiter, er opfert sich selbst, wie z. B.
Winkelrieth. Der edelsinnige und hoch-
herzige Charakter ist durch seine über dem
Leben und seinen Triebkräften stehende An-
schauung auch der heldenmüthigste. Sein
Antipode, das diabolische Scheusal, ist vor-
herrschend feige. Die meisten Mörder zeigen
Todesfurcht, und von den wenigen Aus-
nahmen ist noch ein Theil auf prahlerische
Effecthascherei zurückzuführen, zumal
wenn es nicht Raubmörder sind. Selbst

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 2, S. 44, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-01-02_n0044.html)