Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 3, S. 65

Das »Wunderbare« bei Ibsen (Claassen, Ria)

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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 3, S. 65

Text

CLAASSEN: DAS »WUNDERBARE« BEI IBSEN.

nur übertäubt, nicht erstickt. Die Wildvögel
sind es, die Freigebornen, die Frauen mit
dem Hunger nach den schrankenlosen
Rechten des Lebens, an welche er so
etwas wie eine frohe Botschaft knüpft.
Ist es da nicht lehrreich, wie, was dem
einen zu einer Hoffnung, dem andern zum
panischen Schrecken werden kann? Man
denke an die nervenzerstörende Angst eines
andern grossen nordischen Dichters vor
der überwuchernden Gewalt des Weibes,
vor dem möglichen Triumphieren des
»Ganglienraisonnements« über das Gehirn-
raisonnement, dem Emporwachsen der
niederen halbbewussten Existenzformen
über die bisherige »bewusste Spitze der
tellurischen Schöpfungskette«, den männ-
lichen Grosshirnmenschen nämlich.

Ibsen, weil er den Mann geringer
schätzt, obgleich seine Männergestalten
nicht weniger Gehirn haben als die Strind-
berg’schen, macht gerade das starke
Weib zum Ausgangspunkt seiner Hoff-
nungen. Nicht als ob er es dem Netz
entgehen liesse, das der Galiläer, un-
entrinnbar, den Starken hingelegt hat, seit
er in die Welt getreten ist: auch hier
verzerrt sich Kraft und Schönheit seltsam
unter dem bösen Anhauch der Schuld des
allzustarken Wollens. Und ebensowenig
ist es schon eine Vereinigung des »Un-
vereinbaren«, wenn er den unbezähmbaren
Drang in der Frau, das Grosse, das »Auf-
rüttelnde« zu erleben, direct verknüpft mit
ihrer Liebe. Es ist eine wilde und weite,
eine eigensüchtige und grausame, eine
gleichsam unpersönliche Liebe, die hier
gross wird, ähnlich der kühl-nervösen
Menschenliebe des Baumeisters Solness,
oder der harten und eisig-kalten John
Gabriel Borkmans. Eine andere Kraft ist
es noch, welche hier jene erste über sich
selbst hinaushebt und ihre Schuld ver-
nichtet: die Kraft des Glaubens, eines
halbunbewussten, unbestimmten und un-
erschöpflichen Glaubens, in seiner Wirkung
der galiläischen Liebesfähigkeit ähnlich.
Durch sie allein darf Ibsen aus dem
ungeberdigen Funken, den er entdeckt
hat, die wilde rothe Flamme auf-
schlagen lassen, die unter seinen
Händen dann, gebändigt und geläutert,
als weisse Opferflamme emporzustreben
vermag.

Wo aber, zunächst, sehen wir jenen
Funken entstehen? Schon in den un-
geduldig sich hinaussehnenden jungen
Mädchen bei Ibsen finden wir ihn, wenn
auch nur als glimmendes Fünkchen. Oder
wir sehen ihn sich unter der Asche be-
grabener Lebenshoffnungen bergen, wie
bei der Schwanhild der »Komödie der
Liebe«, die der grossen Liebe entsagt,
zum Heil derselben. Zum Unheil aber
schon glimmt dieser Funke in sich zurück
bei Frau Alving, der die Gespenster aus
der Asche steigen, und das dennoch aus-
brechende Feuer zu spät die Lüge ihres
Lebens zerstört. Noch einmal aber lässt
Ibsen ihn nicht nur sich bergen, sondern
sogar freiwillig erlöschen in der Seele
Ellida Wangels, der Frau vom Meer:
»Ich empfinde kein Grauen mehr — und
mich lockt auch nichts mehr Ich
hätte einen Blick hineinthun können — ich
hätte hineingehen können — wenn ich
selbst gewollt hätte. Jetzt hätte ich es
erwählen können. Und deshalb konnte
ich ihm auch entsagen.« Es ist Ebbe
eingetreten in der Seele der Frau vom
Meer. Und doch war es das »Grauen-
volle« und »Unbekannte«, »das schreckt
und lockt«, welches hier wie die Meeres-
flut seltsam wollüstig auf- und abgewallt
war in jahrelangen Qualen; und doch war
es das Leben, für das sie geschaffen war
und das man ihr zum »letzten- und einzigen-
male« bot, ihr »eigenes, wahres Leben«,
dem gegenüber es für sie nur der Freiheit
des Entschlusses bedurfte, um ihm zu
entsagen. Hier streift wieder einmal der
leis-ironische Blitz aus den Augen des
Dichters sein eigenes Geschöpf.

Wo aber der wilde Funke wirklich
zum erstenmale emporknistert, da kommt
es so merkwürdig unverhofft. Es ist da,
wo die kleine Nora auf das »Wunder-
bare
« wartet. Und ob unter tausend Qualen
herzzerreissender Angst ist’s ihr doch
»herrlich, so das Wunderbare zu erwarten«.
Denn das »Wunderbare«, das ist das,
woran der Glaube sich knüpfen muss,
mag es das »lockend Grauenvolle« heissen,
wie bei Ellida Wangel, oder das »ent-
setzlich Spannende« wie bei Hilde, oder
das »Unmögliche« oder das »Wunder-
bare« schlechtweg. In Nora aber ist der
Glaube zum Opiat geworden. Sie lebt ihm

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 3, S. 65, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-01-03_n0065.html)