Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 3, S. 71

Konrad Ferdinand Meyer Ein Rückblick (Basedow, Hans vonSchölermann, Wilh.)

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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 3, S. 71

Text

SCHÖLERMANN: EIN RÜCKBLICK.

Ganz anders in seiner Lyrik, wenigstens
in dem grössten Theil derselben. Da ist
er empfindender Mensch, ab und zu unter-
drückt er ja auch da das Empfinden zu
Gunsten der Sprache, der Form, aber es
ist doch nur selten der Fall, denn Lyrik
ist eben Empfindung, Momentaufnahme
des Seelenlebens. Wie fein und herzlich
schaut er da und gibt das Geschaute
wieder, wie innige Töne kann er da an-
schlagen, wie klar und wahr, wie rein und
edel fühlen. Der Wahlspruch, den er einer
Braut mitgibt: »Geh’ und lieb’ und leide!«
bildet auch das Charakteristikum seiner
Lyrik. In äusserer, in formaler Hinsicht
ist der Epiker und Lyriker eines, in
innerer Hinsicht tragen sie zwei ganz ver-
schiedene Gesichte. Aber in beiden Gebieten
ist Konrad Ferdinand Meyer trotz aller
Schattenseiten gross und wird es bleiben.

Auf Meyers Lebensgang gehe ich
nicht ein, wie es mir auch nicht nöthig
erschien, nur seine Lichtseiten hervorzu-
heben. Durch kritikloses Loben ehrt man
die Todten nicht, wohl aber durch ruhiges
Abwägen dessen, was sie gekonnt und
was sie nicht gekonnt haben. Und oft-
mals — so ist es bei Konrad Ferdinand
Meyer — tritt das Können desto glänzender
hervor, hält man ihm das Nichtkönnen
entgegen — denn Können und Nicht-
können ist ja nur Ausfluss der Individualität.
Das sind nicht die wahren Künstler, die
scheinbar alles können, sondern das sind
sie, die die Grenzen ihres Könnens er-
kennen und nicht über sie hinausgehen.
Und das that Konrad Ferdinand Meyer —
deshalb wollen wir ihn ehren, eingedenk
des schönen Spruches: »In der Be-
schränkung zeigt sich erst der Meister.«


EIN RÜCKBLICK.
Von WILHELM SCHÖLERMANN (Wien).

Die Kunstausstellungen des verflossenen
Jahres
legen einen kurzen Überblick über
die Kunstentwicklung in Österreich während
der Regierungszeit Franz Joseph I. dem
unparteiischen Beobachter nahe. Was ist
in den fünfzig Jahren geleistet und ge-
wonnen worden? Es gibt da wohl zwei
Wege, sich darüber Klarheit zu verschaffen;
einmal durch eine umfassende Geschichte
der ganzen Periode, mit Hinzuziehung von
Thatsachenmaterial und ausführlichen Bio-
graphien, eine Eintheilung im wesent-
lichen nach Gruppen und Schulen; der
zweite Weg ist dagegen das »abgekürzte
Verfahren«: eine Eintheilung nach Indivi-
dualitäten, Pfadfindern und Gipfelkünstlern.
Überlassen wir den langen, breiten Weg
den eigentlichen Historikern und beschrän-
ken uns diesmal auf den bescheidenen,
kürzeren Richtweg.

In knappen Umrissen alles zu erwähnen
oder genauer zu erläutern, was an dauernd
Wertvollem in Österreich geschaffen wurde,
ist im Rahmen eines Aufsatzes dieser Art
gar nicht einmal möglich. Selbst die ein-
zelnen, wirklich lebendigen Schöpfungen,

welche ein unverlierbares Eigenthum der
Gesammtkunst geworden sind, können
nicht eingehend beleuchtet werden, von
allen denen ganz abgesehen, die, wie
Muther sich ausdrückt, »ihren Lebens-
unterhalt noch so redlich mit der Kunst
verdient haben«. Hier kann es sich nur
um grosse Gesichtspunkte in der Beur-
theilung und um Brennpunkte im Gebiet
des Schaffens handeln.

Für keine Hauptstadt Europas ist die
neuere Architektur von grösserer Bedeutung
in der Gesammtwirkung des Stadtbildes
geworden als für Wien. Es scheint als
habe hier die Baukunst eine Freistätte ge-
funden zu ihrer denkbar günstigsten Ent-
faltung, seit alters her gefördert vom
Habsburger Kaiserhause und dem reich-
begüterten Hochadel, der in Österreichs
Geschichte so oft eine verhängnisvolle
Rolle gespielt hat, den schönen Künsten
aber von jeher ein grossmüthiger Gönner
und Förderer gewesen ist.

Das Stadtbild des heutigen Wien umfasst
eine Reihe von Prachtbauten, die in ihrer
Anlage mit ihrer scheinbar »unbegrenzten

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 3, S. 71, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-01-03_n0071.html)