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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 3, S. 72

Text

SCHÖLERMANN: EIN RÜCKBLICK.

Raumverschwendung« eine außerordent-
liche Gesammtwirkung ausüben. Wenn
man nur die Namen van der Nüll, Semper,
Schmidt, Hansen, Ferstel und Hasenauer
nennt, so weiss jeder, der Wiens grossen
Ringcomplex vom Opernhause bis zur
Votivkirche einmal gesehen hat, was diese
Namen bedeuten. In die Gründerzeit, die
lebensfrohe, »auftragselige« Gründerzeit,
fällt ja die Anlage und Ausführung der
grossen Stadterweiterung. Machtvolle
Bauten wuchsen empor. Genies, wie
Gottfried Semper, theilten den gegebenen
Raum in grandiose Verhältnisse ein und
setzten sich Denkmäler hoher, mannvoller
Geisteskraft in granitenen Quadern und
Rusticasäulen, Denkmäler, deren Ruhm
nicht vergehen kann. In der Mehrzahl
waren es Ausländer, die den Wienern
ihre neue Kaiserstadt aufbauen halfen;
neben dem Hamburger Semper der Däne
Hansen und der Frankfurter Schmidt.
Was die Einheimischen schufen, war
nicht ganz gleichwertig. Sie copierten
die schöne, französische Gothik aus der
Normandie und »verbesserten« die Re-
naissance Meister Gottfrieds am neuen
Burgtheater und den beiden k. k. Hof-
museen nach eigenem Ermessen, im Sinne
des Wiener Localgeschmacks zweiter Güte.
Wenn dabei immer noch hinreichend
Grosses übrig blieb, so dass man hier
mit eigenthümlichem Doppelsinn schreiben
dürfte: »Semper« aliquid haeret ,
das verdanken wir weniger dem Geiste
des guten »Baron« Hasenauer, als vielmehr
der unvertilgbaren Grosszügigkeit von
Sempers Baugedanken.

Und doch: diese schaffensfrohe Zeit
der Siebziger- und Achtziger-Jahre, arbeitete
sie nicht eigentlich in lauter Reminiscenzen?
Es ist, als hätten alle diese grossen Stil-
künstler durch ein krönendes Hauptwerk
ihres Lebens uns noch einmal zeigen
wollen, was vergangene Jahrhunderte in
der Baukunst zum Ausdruck ihres Zeit-
geistes gebracht haben. Was Gothik,
Classicität und Renaissance heisst, das
kann man von ihnen lernen. Die Zeit
selbst hatte keinen Stil, aber sie »besass«
alle Stile. Darum spricht auch keines dieser
Bauwerke zu uns mit jener unwider-
stehlichen Wärme und Eindringlichkeit
der eigenen Zeit, der auch die Zukunft

gehört, weil sie wiederspiegelt, was wir
täglich wünschen, denken, ahnen und
hoffen, was wir brauchen und was wir
sind.

Die grossen Todten in Ehren, aber aus
ihrer Riesenarbeit tönt uns doch eine
ernste Mahnung entgegen, welche unser
gegenwärtiges Geschlecht hören und be-
herzigen muss.

Inzwischen sind »neue Männer« ge-
kommen, welche die erwarteten socialen
Lebensbedingungen und Bedürfnisse auch
in der Architektur zu berücksichtigen und
mit ihren Gesetzen in Einklang zu bringen
suchen. Ihre weit ausschauenden Ideen
machen Schule und bereiten den Boden
vor für die heranreifende junge Generation.
Ich will mich nicht mit Namen aufhalten,
keine Richtersprüche fällen, keine Partei-
politik treiben, nur mit Genugthuung
constatieren, »dass dem so ist«. Diesen
Männern sind wir Dank schuldig, gleich-
giltig welcher »Gruppe« oder »Clique«
sie angehören. Die »interessante Aus-
stellungsstadt« im Prater war der Tummel-
platz des Guten und Bösen in Hülle und
Fülle. Mit dem neuen Ausstellungsgebäude
der Secession ist ein kühner Schritt vor-
wärts gethan, der zwar die Kritik stark
herausfordert, gleichzeitig aber Anregung
nach allen Seiten zu bieten vermag. Beides
ist nützlich. Da jedoch, wie man nicht oft
genug betonen kann, die praktischen
Gesichtspunkte vom Standpunkt eines
modernen Ausstellungsgebäudes für diesen
Bau immer massgebend sein mussten, so
wäre es verfrüht, sich über das rein
Architektonische zu ereifern und darin einer-
seits ein Evangelium, andererseits die
Gefahr eines »atavistischen Rückfalls« er-
blicken zu wollen. Auch hier wird sich’s
zeigen, dass Abwarten gescheiter ist als
Prophet spielen. Eine That ist gethan.
Wenn statt der ewigen Zänkereien bald
neue Thaten folgen möchten, so würde
das beweisen, wie triebkräftig die neue
Bewegung ist.

Über die Malerei hat die Jubiläums-
Ausstellung im Künstlerhaus Aufschluss
gegeben. Sie ist in einer früheren Ausgabe
dieser Zeitschrift besprochen worden. Wir
brauchen nicht zu wiederholen. Wir können
da im allgemeinen eine der europäischen
Entwicklung folgende Bewegung wahr-

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 3, S. 72, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-01-03_n0072.html)