Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 3, S. 76

Tod, Reincarnation und Seelenwanderung Der Salon der Drei (Hartmann, FranzRilke, Rainer Maria)

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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 3, S. 76

Text

RILKE: DER SALON DER DREI.

kommen, welche die Weisen schon vor
vielen tausenden von Jahren gepredigt
haben, nämlich, dass es keinen Stoff ohne
Energie und keine Kraft ohne Stoff gäbe.
Die occulte Wissenschaft, welche die
Weisen lehren, sagt uns aber auch, dass
es weder Kraft noch Stoff ohne Bewusstsein
(Geist) und kein Bewusstsein ohne Kraft
und Stoff gäbe. So wie sogar in einem
Eisklotz latente Wärme und in einem
Wassertropfen Dampfkraft enthalten sind
und darin entwickelt werden können, so
ist auch in jedem Dinge Bewusstsein

enthalten und wird dadurch offenbar,
dass es erweckt wird. So ist auch in
jedem Menschenherzen ein Funke des
Gottesbewusstseins enthalten und wird
dadurch im Menschen offenbar, dass es
erweckt wird. Wäre dies nicht der Fall,
so könnte die Gottheit sich nicht in ihm
verkörpern; der Geist Gottes könnte ihn
nicht ernähren und er könnte nicht das
Ebenbild Gottes oder ein Symbol der
Gottheit werden, was doch der höchste
Zweck seines Daseins auf Erden ist.

(Fortsetzung folgt).


DER SALON DER DREI.
Von RAINER MARIA RILKE.

Im Westen Berlins, an der vornehmsten
Seite des Thiergartenrandes, gibt es jetzt
drei kleine Stuben mit seltsam wandelbaren
Wänden. Bruno und Paul Cassirer laden
in eine jede je einen Meister zu Gaste, und
die drei Fremden, die von einander nicht
wissen, erhalten Raum und Recht sich
auszubreiten, ganz nach Art und Anlage.
Diesen drei einsamen Zimmern hat van
de Velde ein viertes gemeinsames erdacht,
das sie zusammenhält. Er hat einen intimen
Raum geschaffen, der mit einem Kamin
aus flachen dunkelgrünen Kacheln beginnt
und nach langem Laufe in eine breite Veranda
mündet, vor deren Glasthüren junge Winter-
eichen wie braune Bronzen stehen. Das
ganze Zimmer entlang dauern diese wahl-
verwandten Farben, die des Kamins und
die des erloschenen Laubes. Und ist nichts
Lautes in dieser Stube; alles will Hinter-
grund einer guten ruhigen Stunde sein,
und nur über dem goldenen Ofengitter
lächelt ein Glanz. Wenn man an dem
langen Lesetisch lehnt, über das Böcklin-
werk geneigt oder einen Band Goncourt
in den Händen, empfindet man, wunschlos,
das Wohlthun dieses wohnlichen Ortes und
nimmt es an, ohne hinzudenken und fast
ohne Dank.

Man ist durch die drei kleinen Zimmer
gegangen wie durch drei Tage. Zwischen
jedem war eine Nacht oder eine Reise.

Und nun ist man am Ziele und ein wenig
müde und lügt sich ein Buch vor oder ein
Heft des »Pan« (etwas recht Grosses), um
ungestörter zu sein beim Ordnen des mit-
gebrachten Besitzes. Denn man fühlt die
vollen Netze, noch ehe man sie aus der
ergiebigen Tiefe zieht.

Wird jemand sagen: Collectiv-Aus-
stellungen: das ist doch nichts Neues?
Darauf wäre zu antworten: eine Collectiv-
Ausstellung nicht, aber vielleicht drei neben-
einander. Drei Einsame sind auf jeden
Fall interessanter als einer. Freilich, so
Schulter an Schulter scheinen sie nicht so
gross wie der einzelne, der weit aus dem
Schwarme ragt: er ist unabsehbar und
seine Marken sind die der Welt. Unter
Ebenbürtigen beschränkt er sich, und wir
erkennen die Grenzen seiner Persönlichkeit
und den Anfang einer anderen. Wir lernen
die Linie erfassen, die der Umriss seines
Wesens ist und begreifen aus ihrem Ver-
laufe den Sinn seines Stiles und das Mass
seiner Kraft.

Dem Geschmacke der Herren Cassirer
ist es überlassen, die jeweiligen »drei« so
zu wählen, dass sie sich schön und in
klaren Formen berühren. Der erste Drei-
bund war glücklich in diesem Sinne. Er
stellte nebeneinander: den Bildhauer Con-
stantin Meunier und die Maler Degas und
Liebermann. Die Kenntnis des Belgiers
ergänzte sich in einigen frühen Arbeiten,

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 3, S. 76, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-01-03_n0076.html)