Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 4, S. 97

Tod, Reincarnation und Seelenwanderung (Fortsetzung und Schluss) Stefan George (Hartmann, FranzLevetzow, Freiherr Carl von)

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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 4, S. 97

Text

LEVETZOW: STEFAN GEORGE.

Weisheit aufgegangen, dann weiss er auch,
dass er eins mit der Sonne der Weisheit
ist, die allen Formen Licht und Leben
gibt. Dann sieht er in jedem Wesen nur
eine Verkörperung seines eigenen höchsten
Selbst; dann braucht er sich auch nicht
wieder der Fleischwerdung zu unter-
werfen, es wäre denn, dass dies zur Be-
lehrung und Besserung der Menschheit
geschähe. Solche Gottmenschen, die sich
zum Wohle der Menschheit der Wieder-
verkörperung unterziehen, werden »Erlöser
der Menschheit« genannt. Ihr Schicksal
ist es, von der Dummheit verkannt und
von den Egoisten verfolgt und »gekreuzigt«
zu werden.

Alles dies ist schwer zu begreifen, so
lange wir die Menschen und Götter als
von einander getrennte Wesen, ohne inner-
lichen Zusammenhang, betrachten; es wird
aber leicht begreiflich, wenn wir die Ein-
heit des Ganzen im Auge behalten. So wie
es im Raume unzählige Formen und Körper
gibt und dennoch der Raum nur ein
einziger und untheilbar ist und jede Form
im Raume einen gleichsam verkörperten
Raum darstellt, so ist auch die Gottheit
ein untheilbares Ganzes; in Gott, der das
ganze Universum in seinem Wesen um-
fasst, ist alles enthalten; in ihm werden
wir geboren, leben und sterben und werden

wiedergeboren; »in ihm leben wir und
haben wir dieses Dasein.« Alle Vorgänge
im Weltall sind Vorgänge im Körper
Gottes. Menschen, Götter und Dämonen
stellen nur intelligente oder selbstbewusste
Kräfte dar, die sich in diesem Körper be-
wegen, aus dieser einheitlichen Substanz
gebildet und deshalb in ihrem Wesen
identisch sind. Es kommt nichts aus Gott
heraus; denn Gott ist alles und es geht
auch nichts in ihn hinein, denn es
existiert nichts ausser ihm; aber der
menschliche und daher beschränkte In-
tellect kann das Eine, Unendliche nicht
fassen, und wir machen uns daher Vor-
stellungen und Unterscheidungen, wo diese
in Wirklichkeit nicht existieren. Wir
sehen eine Getrenntheit der Erscheinungen,
und bilden uns ein, die Wesen seien auch
ohne innerlichen Zusammenhang. Alle
Menschen, Götter und Dämonen, überhaupt
alle Dinge sind eins in Gott; und die
vielen Formen, unter denen sich dieses
eine Wesen offenbart, sind nur Erschei-
nungen. Jede dieser Erscheinungen ist in
ihrem Wesen eins mit Gott und die Er-
kenntnis dieser Einheit des eigenen Wesens
mit dem Wesen von allen Dingen ist der
Schlüssel zum Verständnisse der Geheim-
nisse Gottes; sie ist die Gotteserkenntnis
oder »Theosophie«.


STEFAN GEORGE.
Von Freiherr KARL von LEVETZOW (Wien).

Der Kritiker im höchsten und letzten
Sinne des Wortes, der ebenso Lebens-
wie Kunstkritiker ist, kann eigentlich immer
nur einen Standpunkt haben, von dem
aus er alle Erscheinungen der Welt, in
der er sich niemals langweilt, betrachtet.
Er hat einen Prüfstein, der alles scheidet,
einen Masstab, der alles misst, ein Licht,
das alles durchleuchtet. Das ist sein Glaube
an die Entwicklung des Menschheits-
gedankens, an den Fortschritt der allge-
meinen Cultur.

Von diesem Gesichtspunkte aus ge-
sehen, gibt es vor allem zweierlei Menschen:
culturbildende und culturdarstellende.

Jede dieser Ordnungen hat ihre Über-
ordnung; jede hat ihre Künstler. Man
könnte auf dieser Grundlage eine neue
Ästhetik schreiben (die alte ist ohnehin
schon lange genug todt); eine Ȁsthe-
tik als kosmische und mikrokos-
mische Ökonomie

Die Künstler der ersten Art, das sind
die Vorausahner der neuen Culturen, die
»Pfeile der Sehnsucht«, die Erringer neuer
Gedanken, die aus dichten Werde-Nebeln
neue Welten ballen, die grossen Geburts-
helfer der Jahrhundertszeugungen; Philo-
sophen, wie Orpheus, Dichter wie
Nietzsche; — denn in dieser Ordnung

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 4, S. 97, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-01-04_n0097.html)