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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 4, S. 98

Text

LEVETZOW: STEFAN GEORGE.

sind die Philosophen Dichter und die
Dichter Philosophen. Beide sind eben
Ahnungskünstler. — Die anderen
aber sind die Erzieher dessen, was jene
gebären halfen. Die Verdichter und Klärer,
die Ordner und Lehrer, Bildner und Bau-
meister von Gesetzen und Systemen.

Die zweite Art, die Culturdarsteller
sind diejenigen, die das Neuerrungene,
was jene erahnt und diese verdichtet und
geordnet, durch sich, ihr ganzes Wesen
und Leben verwirklichen, darstellen.
Auch sie haben ihre Künstler. Das sind
die, welche nicht nur die ganze bisherige
Cultur in sich aufgenommen haben und
durch ihr blosses körperliches Leben dar-
stellen, sondern dieses Aufgenommene
wieder von sich geben, ihm ein höheres
ideelleres Leben verleihen in der Gestalt
von Kunstwerken.

Und hinter jeder dieser beiden Gruppen
echter Vollkünstler stehen auch noch jene,
die nie erfüllt haben, aber deren starker,
lebendiger Wunsch zur Grösse ihnen das
Recht gibt, nach den Grossen genannt zu
werden. Denn schon die Sehnsucht nach
der Erfüllungsgnade, die höchsten Früchte
des Lebens, der Zukunft zu pflücken und
sie der Menscheit zu reichen, als lächelnde
Schenker; schon diese Sehnsucht setzt
eine besondere Hoheit und Läuterung des
Geistes voraus, und verleiht einen Abglanz
von Heiligkeit, der in Liebe nähert und
doch in Ehrfurcht entfernt.

Stefan George ist ein culturdarstel-
lender Künstler. Was ich vorher über
diesen Typus gesagt habe, möge nicht so
aufgefasst werden, als würfe ich ihm
Schwäche der Persönlichkeit vor. Es ist
vielleicht ein Zeichen von sehr intensiver
Individualität, wenn sie selbst Fremdes,
schon einmal Geformtes noch so ganz zu
ihrem Eigen machen kann.

Wenige kannten Stefan George bisher
und auch diese fast nur vom Hörensagen.
Er war wie ein ferner Märchenprinz —
wie eine princesse lointaine. Aber das
passte sehr gut zu seinem innersten
Wesen. Er ist nicht ein Künstler für viele,
er ist der Künstler einer ganz kleinen
Gruppe aus den culturdarstellenden.

Seltsame und seltene, verfeinerte Men-
schen sind das. Sie gehören nicht unter die
Naiven, freudig Geniessenden, auch nicht

zu den trotzig Abgekehrten oder den
dumpf Hinbrütenden. Es sind nicht
die Liebenden oder Hassenden, nicht die
Gleichgiltigen oder Geschäftigen. Auch
nicht die Kranken und Müden. Sie sind
nicht im Leben, treibend und selbst
getrieben; sie sind auch nicht über dem
Leben, wie jene Grössten, Gewaltthätigen,
die ihm Richtungslinien angeben und es
beherrschen. Neben dem Leben sind sie.
Jeder von ihnen ist eine Insel. Sie sind
nicht dort, wo man ihren Körper glaubt.
Seltene, späte Menschen, Abschluss-
blüten an einem Zweige des grossen
Menschheitsbaumes. Frühreif und doch
nicht überreif; fertig und vollentwickelt und
dennoch ohne Weiterentwicklung — ewige
Epheben. Das sind die über Länder und
Zeiten zerstreuten Zusammenfassungs-
menschen
, die alles Vergangene und
Gleichzeitige noch einmal in sich aufleben
lassen — dann wird es sterben. Sie haben
alle Culturideen in sich vereinigt, die sonst
auf viele vertheilt sind. Sie harmonisieren
in sich. — Der Künstler dieser wenigen
ist Stefan George.

Zu meinen träumen floh ich vor dem volke,
Mit heissen händen tastend nach der weite
Und sprach allein und rein mit stern und wolke
Von meinem ersten jugendlichen streite.

Die blumen hergeholt aus reichem leben
Umflocht ich frei und stolz an goldnen kreisen,
Dem fern im licht geheiligten efeben
Verklang sein schmerz in feierlichen weisen.

Zu götterthalen, blinkenden mäandern,
Ich liefs in stätten innig hoher sitten
Und in den süden meine seele wandern
Wo sie gekrönt den martertod erlitten.

Und heut geschieht es nur aus Einem grunde
Wenn ich zum sang das lange schweigen breche:
Dass wir uns freuen auf die zwielichtstunde
Und meine düstre schwester also spreche:

Soll ich noch leben darf ich nicht vermissen
Den trank aus deinen klingenden pokalen
Und führer sind in meinen finsternissen
Die lichter die aus deinen wunden strahlen.

Bald lebt in Stefan George das alte
Griechenthum wieder auf, wie zum Bei-
spiele in dem Gedichte

AN MENIPPA

Menippa! wenn auch deines auges sich be-
wusster glanz
Wie früher noch mich lockt: verstreichen
liessest du die Frist

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 4, S. 98, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-01-04_n0098.html)